Lieber Lendwirbel…

Lesezeit: 4 Minuten

von Johanna Seebacher und Anja Palme

Ein Nachbericht zum Stadtteilfestival in Graz, das vom 1. bis 4. Mai die Straßen des Lendviertels mit Kunst, Musik und lebendigen Diskussionen füllte.

Donnerstag, 9 Uhr: 

Menschen, die Zeltplanen in die Höhe stemmen, sowie fahrende Tuk-Tuks mit Anhängern voller Technik und Soundsystemen lassen erahnen, dass heute etwas anders ist als sonst. Ein erstes, noch zaghaft gesprochenes „Test, Test, 1, 2, 3!“ aus dem Mikrofon kündigt an: Hier passiert heute mehr als nur der übliche Markttrubel. Der Lendwirbel nimmt Gestalt an.

Donnerstag, 16 Uhr:

Unter glühender Sonne und den dumpfen Schlägen von Trommler:innen, die ihren Platz nur ungern verlassen möchten, steht die Annenpost. Wir warten – ausgestattet mit Schreibmaschinen, selbstgebastelten Plakaten und einem etwas sperrigen Ohrensessel darauf, dass das Zelt am Hieristplatz-Platz frei wird. Nach kurzen Ab- und Aufbauarbeiten ist der Stand bezogen. Jetzt fehlen nur noch Geschichten. „Setz dich zu uns, plaudere ein bisserl – wir schreiben ein kurzes Portrait über dich!“, so die Aufforderung an unserem Stand. Mit den sogenannten „Wirbelportraits“ soll eingefangen werden, was den Lendwirbel ausmacht: die Menschen, die ihn besuchen – und beleben. Das rege Treiben von 9 Uhr früh hat sich jetzt in den Lendwirbel verwandelt, so wie man ihn kennt. 

Ein Teil der Annenpost-Redaktion am Lendwirbel. – Foto: Jakob Schöne

Freitag, 14 Uhr: 

Auch der Volksgarten war heuer ein Ort des Austauschs. Unter dem Blätterdach nahe der Hundewiese versammelten sich Interessierte zu einem Workshop mit dem Titel „Blubbergespräche”. In offener Runde wurde diskutiert, was der Volksgarten für die Menschen bedeutet, wie er genutzt wird und welche Sorgen mit ihm verbunden sind. „Der Park ist für alle da“, betonte ein Teilnehmer. Andere Stimmen klangen deutlich kritischer. Ein älterer Mann schilderte, warum er den Volksgarten meidet, wenn er mit seinen Enkeln unterwegs ist: „Der Drogenhandel wird gar nicht mehr versteckt. Es wird hier offen gedealt, und keiner tut etwas dagegen.“ Die Weiterführung der Schutzzone im Volksgarten sieht er nicht als zielführende Lösung an.

Zeitgleich fand eine ähnliche Gesprächsrunde im Fröbelpark statt. Auch hier wurde deutlich: Der Wunsch nach mehr Sicherheit, Aufenthaltsqualität und gemeinsamer Gestaltung im öffentlichen Raum ist spürbar – besonders in jenen Stadtteilen, die oft übersehen werden.

Das Setup der Blubbergespräche“ im Volksgarten. – Foto: Johanna Seebacher

Freitag, 21 Uhr:

Der Mariahilferplatz ist nun so voll, dass er kein Durchkommen mehr erlaubt. Man hat das Gefühl, man wird gezwungen, am vermeintlich lustigsten Event des Lendwirbels teilzunehmen: dem Tanzkaraoke. Eine Gebäudefassade am Mariahilferplatz wird umfunktioniert, sie dient als Leinwand. Beim Tanzkaraoke dürfen Passant:innen ihre eigenen Tanzvideos aufnehmen. Diese werden anschließend zusammengeschnitten und auf die Hausmauer projiziert, sodass alle Besucher:innen des Platzes die individuellen Tänze nachmachen können. Der Kreativität waren keine Grenzen gesetzt: Von Standardtänzen über Hip-Hop oder Bewegungen, die sich keiner Kategorie zuordnen ließen – „Just Dance“ im Graz-Format.

Nach etwa einer Stunde verklingt die Musik. Das Licht des Beamers erlischt, die ausgelassene Tanzstimmung weicht einem leisen Murmeln. Das Tanzkaraoke ist zu Ende und die Afterpartys beginnen. Langsam setzt sich die Menschenmenge wieder in Bewegung, zurück in Richtung Lendplatz. In der Stockergasse ist das Fenster der Scherbe geöffnet, Menschen stehen davor auf der Straße und wippen zum Takt der Musik.

Andere Nachtschwärmer:innen zieht es zum Pop-up-Club GRNGR. Dort fanden dieses Jahr nicht nur Open-Air-Konzerte unterschiedlichster Genres statt, sondern auch DJ-Sets in den verwandelten Räumen des ehemaligen Gasthauses. Bereits kurz nach 23 Uhr bildete sich eine Warteschlange vor dem Eingang – die Vorfreude auf druckvolle Drum-&-Bass-Beats lag förmlich in der Luft. 

Kuverts, in denen die „Wirbelportraits“ an die Besucher:innen gegeben wurden. – Foto: Jakob Schöne

Samstag, 10 Uhr: 

Die müden Augen der Menschen, die am Samstagmorgen über den Lendplatz flanieren, verraten, dass sich das Feiern bis in die Morgenstunden gezogen hat. Nicht nur die Annenpost, sondern auch circa 20 weitere Personen überwanden sich zu der morgendlichen Yogastunde mitten auf dem Mariahilferplatz. Zuerst wurde das Mikrofon getestet, Yogamatten ausgerollt und ein Platz im Schatten gesucht. Dann begann die Stunde. Das Rauschen der Mur, die vorbeiziehenden Autos und das leise Murmeln der Passant:innen verschmolzen mit der ruhigen, klaren Stimme der Yogalehrerin Katharina Diem. Neben Achtsamkeitsübungen und fließenden Dehnungen aller Art wurde „der ‚Krieger‘ I bis III“ mindestens zehn Sekunden gehalten – denn erst im Schmerz, so hieß es, beginne das Wachstum.

Samstag, 15 Uhr: 

Die Klänge einer Baglama vermischen sich mit kurdischem Gesang und ziehen die Besucher:innen des SLAM 8020 Poetry Showcase im Fröbelpark in ihren Bann. Auf der Wiese des Parks haben es sich die  Menschen, die sich für das Event entschieden haben, gemütlich gemacht. Auf den Parkbänken daneben beobachten ältere Passant:innen das Geschehen. Ihre fragenden Blicke verraten, dass sie eher zufällig als bewusst Teilnehmer:innen der Veranstaltung sind. Als die letzten Töne der Baglama verklingen, betritt der Moderator Muhammed Dumanli – selbst beim Fröbelpark zu Hause – die Bühne. Er stellt dem Publikum das heutige Thema und die Etikette während eines Poetry Slams vor. Gemeinsam mit ihm steht Donia Ibrahim auf der Bühne, um ihre Texte vorzutragen. Im Sinne des SLAM 8020 dreht sich alles um Identität und darum, wie es sich anfühlt, ein Mensch mit Migrationshintergrund zu sein. 

Eine Trommelgruppe drängt sich durch die dichten Gassen am Lendwirbel. – Foto: Jakob Schöne

Samstag, 17 Uhr: 

In der Josefigasse versammeln sich dichte Menschenmengen, die sich wie ein lebendiges Spalier entlang der schmalen Gasse aufreihten. Mitten drinnen: Skateborder:innen. Sie präsentieren ihr Können und beeindruckten mit waghalsigen Tricks, die das Publikum immer wieder in Jubel ausbrechen lassen. Im Zentrum des Geschehens eine Metallbank – Dreh- und Angelpunkt spektakulärer Sprünge. Eine Frau geht in die Brücke, und ein Skateboarder nutzt den Moment für einen Sprung über sie hinweg. Die Menge explodiert vor Begeisterung.

Sonntag, 15 Uhr: 

Die Straßen rund um den Bezirk Lend wirken heute merklich ruhiger, was zum Teil dem Wetter zuzuschreiben ist. Der Wind weht kühl und kündigt Regen an, der kurze Zeit später die Straßen erfrischt. Zahlreiche Menschen, deren Gesichter sich unter den Kapuzen ihrer Regenjacken verstecken, sind damit beschäftigt, die letzten Spuren des Stadtteilfestivals zu beseitigen. Spätestens als der Regen die farbenfrohen Kreidezeichnungen von den Straßen spült, wird klar: Der Lendwirbel ist vorüber.

 

Titelbild: Das bunte Treiben am Lendwirbel. – Foto: Jakob Schöne







Hi, mein Name ist Anja, bin seit Oktober 2024 JPR-Studentin und somit auch Teil der Annenpost.
Wenn ich nicht gerade durch das Annenviertel flaniere um spannende Stories für euch zu entdecken, findet man mich meistens tratschend in einem Kaffeehaus, am Berg oder hinter einem guten Buch.

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