Das „metaphysische Wesen EU“ im Annenviertel

Lesezeit: 3 Minuten

Am 9. Juni ist es so weit: Die Europawahl findet statt.  Christian Nußmüller von der Stadtbaudirektion Graz klärt auf, warum die EU für die Bewohner:innen des Annenviertels relevant ist.

Von: Julia Schuhmacher, Rosalie Sommer

Vielen Österreicher:innen ist nicht bewusst, inwiefern die Europäische Union ihr Alltagsleben tangiert. Generell gibt es viele Menschen, die sich gleichgültig gegenüber der EU zeigen. Das wird auch bei einer Befragung des Gallup-Instituts Österreich vom Herbst 2023 ersichtlich: Mehr als ein Drittel (38 Prozent) der Menschen in Österreich gibt an, sie sähen die EU „weder positiv noch negativ“. Ein Grund dafür ist, dass die politischen Prozesse in der Union schwer nachzuvollziehen sind. Dadurch wirkt sie für EU-Bürger:innen sehr abstrakt.

KoHÄ?sionspolitik

Die Kohäsionspolitik der EU ist eine Strategie zum Ausgleich der regionalen Unterschiede innerhalb der Mitgliedsstaaten. Sie fördert Projekte, die territoriale, wirtschaftliche und soziale Innovation betreffen. Finanziert wird all das vom Europäischen Fonds für regionale Förderung (EFRE). Davon setzt das Land Steiermark in der aktuellen Förderperiode über zehn Millionen Euro für integrierte Stadtentwicklungsmaßnahmen ein. Eine Landesbeamt:innen-Jury entscheidet, wohin die Fördergelder fließen.

Vom nationalen Gesamtbudget geht ein großer Teil in Wirtschaftsförderung. Jedoch ist von der EU eine Mindestquote von acht Prozent für Maßnahmen zur integrierten Stadtentwicklung vorgeschrieben. Diese Quote wird hauptsächlich von Wien abgedeckt. Folglich ist es für die restlichen österreichischen Städte schwierig, Förderungen zu beziehen. In der letzten Strukturperiode hat die Stadt Graz deswegen keine durch den EFRE finanzierten Projekte umsetzen können. 

Die EU im Annenviertel

Trotzdem konnten in den Jahrzehnten zuvor durch EU-Mittel Projekte in Graz realisiert werden. So auch im Annenviertel. Anfang der 2000er Jahre gab es im Grazer Westen noch viele Industriebrachen. Das URBAN II Projekt sah darin Potential und setzte sich das Ziel, „diese Bezirke, die historisch industriell geprägt waren, fit zu machen für die Anforderungen des 21. Jahrhunderts“, erzählt Christian Nußmüller. Er ist seit 2005 Förderexperte in der Stadtbaudirektion und hat auch an diesem Stadtentwicklungsprogramm von 2000 bis 2008 mitgearbeitet. Es bestand aus 40 Teilprojekten, die über den EFRE kofinanziert wurden. 

Ergebnisse davon sind zum Beispiel die öffentliche Stadtbibliothek Graz West oder der allgemein zugängliche „Pocket Park“ auf dem Campus der FH JOANNEUM. Laut Nußmüller war das Ziel, die seinerzeit neue Fachhochschule „nicht als UFO landen zu lassen, als Fremdkörper in einer bestehenden Stadtstruktur, sondern dass auch das bestehende Umfeld gut damit vernetzt wird, bis hin zu den Bewohner:innen im Bezirk.“ So wurden damals von URBAN II auch EDV-Kurse oder Möglichkeiten zur Weiterbildung für Mütter angeboten. Insgesamt sollte die Lebensqualität für Viertelbewohner:innen durch die Vernetzung von Arbeit, Ausbildung, Nahversorgung und Freizeit verbessert werden. 

Auch URBAN I – aus der vorherigen Strukturperiode 1996 bis 2001 – hat bleibende Spuren im Annenviertel hinterlassen. Diese Initiative hat sich damals auf den Bezirk Gries fokussiert. Der Experte erklärt, dass die Rahmenbedingungen der EU vorgeben, dass man „infrastrukturell und sozial benachteiligte“ innerstädtische Gebiete zur Förderung auswählt. Um Gries attraktiver zu machen, sind zum Beispiel der Augartensteg errichtet und das Bad zur Sonne revitalisiert worden.

Die Sichtbarkeit der EU

Für Christian Nußmüller zählt die EU-Förderung von interdisziplinären Stadtentwicklungsprojekten indirekt als Gütesiegel, da der Auswahlprozess äußerst streng sei. Am Ende werden nur die innovativsten Projekte ausgewählt. Vielen Leuten sei jedoch nicht bewusst, welche Initiativen, die sie im Alltag beeinflussen, von „diesem metaphysischen Wesen EU“ mitfinanziert wurden. Bei bleibenden Gebäuden und Bauwerken wird ein Förderhinweis angebracht, der jedoch „nach einiger Zeit natürlich erneuert werden sollte“, meint Nußmüller. 

Ein derartiger Förderhinweis ist auch an der Glasfassade der Stadtbibliothek Graz West zu finden. Der ist aber schon „ziemlich abgewittert“ und soll in naher Zukunft erneuert werden. Den Hinweis am Augartensteg hat Christian Nußmüller zum Beispiel letztes Jahr schon auswechseln lassen. Zufrieden mit dieser simplen Art der Kennzeichnung ist der Förderprojektexperte trotzdem nicht: Er hofft künftig auf noch mehr Projektmaßnahmen, um der Bevölkerung Finanzierungen der EU in ihrem direkten Lebensumfeld bewusst zu machen.

Förderhinweis am Augartensteg - Foto: Julia Schuhmacher
Förderhinweis an der Bibliothek Graz West - Foto: Julia Schuhmacher
Förderhinweis am Bad zur Sonne - Foto: Julia Schuhmacher
Förderhinweis am Augartensteg - Foto: Julia Schuhmacher Förderhinweis an der Bibliothek Graz West - Foto: Julia Schuhmacher Förderhinweis am Bad zur Sonne - Foto: Julia Schuhmacher

Zukünftige Fördermöglichkeiten

Für die aktuelle Strukturperiode können ab Juni neue Förderanträge gestellt werden. Nußmüller koordiniert dazu ein Team, bestehend aus den Abteilungen für Grünraum und Gewässer, Verkehrsplanung, Stadtvermessung und dem Stadtplanungsamt, das aktuell überlegt, welche Maßnahmen in Graz zur EU-Förderung eingereicht werden. Zudem werden Stadtgebiete analysiert, in denen es sinnvoll wäre, Grünraumdefizite zu beheben. 

Nußmüller beleuchtet die Schwierigkeiten, eine bereits bestehende Stadtstruktur zu optimieren: „Wir spielen in diesem Setting leider nicht SimCity, wo wir auf der grünen Wiese von Grund auf planen können. In der gebauten Stadt sind Klimawandel und Dekarbonisierungsmaßnahmen umso schwieriger umzusetzen. Das wird die große Herausforderung für die Zukunft sein.“

 

Begriffsdefinitionen

Integrierte Stadtentwicklung ist ein ganzheitlicher Planungsansatz, der alle relevanten Bereiche wie Wohnen, Mobilität, Umwelt, soziale Infrastruktur und Bildung berücksichtigt und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit voraussetzt.

Eine Strukurperiode in der EU-Kohäsionspolitik dauert immer sechs Jahre. In diesem Zeitraum wird das von der EU zur Verfügung gestellte Geld für die in dieser Periode ausgewählten Projekte verwendet. Aktuell befinden wir uns in der Strukturperiode 2021-2027.

 

Titelbild: Die EU-Flagge vor dem Europäischen Fremdsprachenzentrum des Europarates in Gries. – Foto: Julia Schuhmacher

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

vierzehn − 5 =

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Vorherige Geschichte

Ein Ballabend so bunt wie seine Gäste

Nächste Geschichte

Freiwilliges Soziales Jahr: Eine Reise zu sich selbst

Letzter Post in POLITIK & WIRTSCHAFT