Superwahljahr: Migrant:innen ohne Stimme

Lesezeit: 3 Minuten

Das Superwahljahr 2024 geht am 9. Juni mit der EU-Wahl in die nächste Runde, bevor im Herbst Nationalrat und Landtag gewählt werden. Doch was, wenn man nicht die österreichische Staatsbürgerschaft hat? So geht es vielen im Annenviertel. Ein Einblick in das Superwahljahr aus einem migrantischen Viertel.

Von Rosa Gierometta und Tobias Jaritz

In Gries übersteigt der Anteil von Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft in diesem Jahr erstmals in einem Grazer Bezirk den Anteil der Personen mit österreichischer Staatsbürgerschaft. Auch in Lend macht diese Gruppe einen bedeutenden Teil der Bewohner:innen aus. Viele von ihnen sind EU-Bürger:innen, die am 9. Juni wählen dürfen. Doch ein großer Teil, beispielsweise Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft, hat kein Mitbestimmungsrecht in Österreich.

 

Das Superwahljahr im Annenviertel

Einen großen Teil der Bewohner:innen von Lend und Gries, die keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, machen Rumän:innen und Kroat:innen aus. Sie sind EU-Bürger:innen und dürfen bei der Wahl am 9. Juni mitbestimmen. Auch bei Kommunalwahlen dürfen EU-Bürger:innen wählen.

Unionsbürger:innen mit Hauptwohnsitz in einer österreichischen Gemeinde wählen die Vertreter:innen Österreichs im Europäischen Parlament”, so Eva Möstl, Referatsleiterin beim Amt der Steiermärkischen Landesregierung. Das können sie nur, wenn sie einen Antrag zur Aufnahme in die Europa-Wählerevidenz gestellt haben. Dazu hatten EU-Bürger:innen bis zum Stichtag der Europawahl, dem 26. März, Zeit.

Doch im Lend sind die meisten Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft türkischer Herkunft. Sie, so wie andere Nicht-EU-Bürger:innen, dürfen weder bei den österreichischen Wahlen im Herbst, noch bei der Europawahl abstimmen. Diese Personengruppe macht fast 30 Prozent der Bewohner:innen des Annenviertels aus.

Fast 30 Prozent der Viertelbewohner:innen dürfen bei den österreichischen Wahlen nicht wählen. – Grafik: Tobias Jaritz und Rosa Gierometta

 

Brücke zwischen Politik und Migrant:innen

Für genau diese Menschen ist der Migrant:innenbeirat der Stadt Graz eine politische Interessensvertretung. Sie sind „eine Brücke zwischen der Kommunalpolitik und vielen migrantischen Communities der Stadt”, erklärt Irina Karamarković, Vorsitzende des Beirats.

Viele Menschen aus diesen Communities seien besorgt wegen der unwürdigen politischen und medialen Sprache und wegen des Rechtsrucks in unserer Gesellschaft. „Das Thema Migration ist ein höchst sensibles, täglich politisch missbrauchtes und negativ besetztes Thema – es nimmt einen riesigen Platz in den bevorstehenden Wahlkämpfen ein”, erzählt die Kulturwissenschaftlerin und Menschenrechtsaktivistin Karamarković.

In den Wahlkampf werden Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft laut Karamarković nicht miteinbezogen, „sondern eher durch den Kakao der politischen Debatten gezogen. Als Wählerschaft sind sie nicht interessant, da sie ja keine Stimme haben.” 

 

Windschiefe Repräsentation

Dass bei Kommunalwahlen auch EU-Bürger:innen ohne österreichische Staatsbürgerschaft wählen dürfen, ändere laut Heinz Wassermann, Wahlforscher und Lehrender an der FH JOANNEUM, kaum etwas an der Wahlbeteiligung. „Das hat sich aber auch damals nicht wirklich geändert, als das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt wurde”, erklärt er.

Der Stimmzettel bei der Europawahl. – Foto: Rosa Gierometta

Er findet, Österreichs Politik habe ein Repräsentationsproblem. „Wenn man sich die österreichischen Parlamente anschaut, egal ob den Grazer Gemeinderat, den steirischen Landtag oder den österreichischen Nationalrat, ist die Zusammensetzung von vorne bis hinten windschief. Nicht nur Migrant:innen sind kaum vertreten, es gibt auch noch immer eine massive Überrepräsentation von Männern in diesen Organen.” Besonders dramatisch sei auch die Vertretung von verschiedenen Bildungs- und Berufsgruppen. Personen mit Pflichtschul- oder Lehrabschluss sowie Arbeiter:innen seien unterrepräsentiert, während es einen Überhang an Akademiker:innen und Beamt:innen gibt.

 

Gleich oder gleicher?

Irina Karamarković stellt die Frage, ob wir Gleichheit für alle wollen, oder ob wir es bevorzugen, dass einige gleicher sind als andere. Denn: „Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie keinen Anspruch auf politische Vertretung und keine Stimme hätten?” Um allen Menschen diese Stimme zu geben, müssen sich, laut der in Priština geborenen Künstlerin, einige Gesetze ändern. „Wir müssen die politische und mediale Sprache so kultivieren, dass wir menschenwürdig miteinander umgehen und anfangen, Beteiligungsprozesse auf Augenhöhe gemeinsam zu gestalten. Sie dürfen nicht vorgetäuscht sein.” 

Karamarković, die selbst nicht in Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft ist und daher im Superwahljahr nicht mitbestimmen darf, hofft, dass alle, die diese Chance haben, sie auch nutzen und wählen gehen.

 

Titelbild: Das Superwahljahr 2024 startet mit der Europawahl. – Foto: Rosa Gierometta

Ich wurde 2003 geboren und wuchs in der Obersteiermark auf. 2021 bin ich nach Graz gezogen und seit Oktober 2023 studiere ich Journalismus und PR auf der FH JOANNEUM.
Meine Interessen sind Musik, Bücher und Filme, Feminismus und LGBTQ-Aktivismus.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

2 × zwei =

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Vorherige Geschichte

Das Duell um die österreichische Krone

Nächste Geschichte

Neue Klänge und Live-Energie: „Unorthodox Radio“

Letzter Post in POLITIK & WIRTSCHAFT