Hassan und Judy stehen vor der Glastür der "Welt der Gewürze".
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Mit Hassan und Judy durch das “syrische” Annenviertel 

in VIERTEL(ER)LEBEN von

2300 km Luftlinie von Damaskus entfernt, haben Hassan und seine Familie im Annenviertel ein Stück Heimat gefunden. Ein Rundgang.

„مال الشام / Mal Sham – Damaskus Markt” am Lendplatz. Bunte Verpackungen, mit arabischen Aufschriften und deutscher Übersetzung darunter, stehen in den Regalen. Shishas gibt es hier ebenso zu kaufen wie Cola oder orientalische Gewürze. Arabische Gesprächsfetzen vermischen sich mit deutschen. Hier beginnt eine besondere Tour durch das Annenviertel, geführt von Hassan Goha und seiner Tochter Judy, die gerne hier einkaufen, seit sie in Graz angekommen sind. „80 Prozent unserer Lebensmittel kaufen wir in österreichischen Supermärkten. Aber den Rest besorgen wir in syrischen Geschäften“, erklärt Hassan und zeigt uns allerlei Spezialitäten, die es im Mal Sham gibt: Weinblätter, Sesampaste, Falafel oder Curry.

Hassan kommt aus Syrien. Er, seine Frau, Judy und der kleinere Bruder lebten in einer Wohnung in der Hauptstadt Damaskus. Als Tischler hatte er dort sein eigenes Unternehmen, bis er und seine Familie im Jahr 2013 gezwungen waren, Syrien zu verlassen. Knapp zehn Jahre lang dauert der Bürgerkrieg in dem Land mittlerweile. Seit 2011 flohen laut UNHCR 6,7 Millionen Menschen aus Syrien, weitere 6,1 Millionen flüchteten innerhalb ihres Heimatlandes (Stand 2018).

Vor dem Eingang des Damaskus Markt am Lendplatz sind Schachteln mit Obst und Gemüse aufgestellt.
Syrische Lebensmittel kauft Hassans Familie im Mal Sham am Lendplatz – Foto: Julia Schöttel

Ein Stück Syrien im Annenviertel

In der Süßigkeitenabteilung des Marktes stehen dicht an dicht abgepackte Leckereien im Regal. An der Theke sind Nüsse und süßes Gebäck erhältlich. Judy erzählt vom traditionellen islamischen Zuckerfest. Ganz dem Namen entsprechend werde beim Fest zum Ende des Fastenmonats Ramadan viel Süßes gegessen, so Judy, die in ihrer Freizeit gerne auf ihren Rollschuhen unterwegs ist oder Bücher liest. Sie besucht zurzeit die dritte Klasse eines Grazer Gymnasiums und möchte später studieren. Hassan kauft je eine Packung Lokum, eine Süßigkeit auf Sirup-Basis, und Baklava, ein arabisches Gebäck. Die schenkt er mir, als wir den Supermarkt wieder verlassen: „Für dich!“

Weiter geht es einmal quer über den Lendplatz, an den Skateboarder*innen vorbei, die hier ihre Tricks üben, zu dem kleinen Geschäft namens „Gewürze der Welt“.  Der Laden biete auch Gewürze an, die in der syrischen Küche zum Einsatz kommen, so Hassan. Kardamom, Muskatnuss, Kreuzkümmel und Ingwer verfeinern in der Küche der Gohas Reis, Fleisch oder Linsensuppe. Zum Zeitpunkt unseres Rundgangs hat das Geschäft jedoch aufgrund des Lockdowns geschlossen.

Derzeit geschlossen hat auch die nächste Station unserer Tour. „Hier kommen wir abends oft zum Kartenspielen her“, erklärt Hassan vor dem Lokal „Brot und Spiele“ in der Mariahilfer Straße. Er sei froh, jetzt in Österreich zu wohnen: „Das Land hat uns so viel gegeben: Arbeit, Sicherheit, einen Platz zum Leben. Gott sei Dank bin ich in Österreich und nicht in Syrien, wo der Krieg alles zerstört hat.“ Auch die Kinder können nun die Schule besuchen. Keine Selbstverständlichkeit, wie Judy schildert: „In Syrien werden Bomben auf die Schulen geworfen.“

Lokum in zwei sternförmigen Schalen.
Lokum sieht nicht nur schön aus, sondern schmeckt auch lecker – Foto: Julia Schöttel

Rettung auf hoher See

„2013 war die Situation in Syrien besonders schlimm. Wir mussten mit den Kindern im Keller bleiben“, berichtet Hassan. Schließlich floh die Familie über den Libanon und Ägypten nach Libyen. Doch auch dort konnten sie nicht bleiben: „In Libyen fand ich zwar Arbeit, es war aber zu gefährlich.“ Seine Kinder (damals fünfeinhalb und sechseinhalb Jahre alt) durften aufgrund drohender Überfälle auf offener Straße die Wohnung nicht verlassen.

Schließlich erfuhr Hassan von Österreich und der Möglichkeit, über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten. Fünf Tage verbrachte die Familie auf dem Meer: einen Tag auf einem kleinen, überfüllten Boot mit anderen Flüchtenden, dann rettete sie ein Schiff des Roten Kreuzes aus Seenot. „Es gab nur den Himmel und das Meer“, beschreibt Hassan die verzweifelten Stunden auf offener See.

Ein neues Leben in Österreich

So erreichte die Familie die Küste Italiens und mit dem Zug schließlich Wien. 40 Tage verbrachten sie in Traiskirchen, danach lebte die Familie in einer Pension der Caritas in Neumarkt (Bezirk Murau). Hassans Frau brachte in dieser Zeit ihr drittes Kind zur Welt. Er erzählt von den Bewohnern der obersteirischen Marktgemeinde, die die Familie unterstützten – manche bis heute. Nette Bekannte machen das Leben in Österreich leichter. Das bekräftigt auch Judy: „Dann fühlt man sich nicht wie eine Außenseiterin.“ Um leichter einen Job zu finden, zog die Familie im Jahr 2015 nach Graz ins Annenviertel. Hassan arbeitet nun als Monteur in einem Möbelhaus: „Ich will nicht zu Hause sitzen und Geld vom Staat bekommen. Ich will arbeiten und noch besser Deutsch lernen.“ Beim Autofahren hört der 36-Jährige deswegen deutsche Hörbücher. Mit syrischen Freunden, die er in Graz gefunden hat, trifft er sich am Wochenende gerne auf einen Kaffee.

Schließlich stehen wir vor dem Lieblingsrestaurant der Familie, der „Orientecke“ in der Annenstraße. Im letzten Jahr eröffnete Hosam Alshmer das Restaurant. Der aus Syrien stammende Besitzer serviert hier arabische Speisen und Gebäck. Die Gohas kochen oft selbst, doch wenn sie hierher kommen, genießen sie Shawarma. Bei der Zubereitung dieses arabischen Fleischgerichts wird das Fleisch an einem Drehspieß gegrillt. Im vorderen Teil des Lokals stehen Tische und Sessel, im hinteren typische arabische Sofas, wie Judy erklärt. Einmal in der Woche spielt hier eine Live-Band und bringt so arabischen Flair in die neue Heimat der Familie.

 

Titelbild: Hassan und Judy haben im Annenviertel eine neue Heimat gefunden – Foto: Julia Schöttel

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