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„Jedes Viertel hat seine eigene Sucht“

in SOZIALES von

Der Verein JUKUS möchte mit seinem Projekt „Die verschwiegene Sucht 2.0“ Medikamentenabhängigkeit sichtbar machen. Geschätzte 1,6 Prozent der SteirerInnen sind betroffen.

Das Jugendzentrum ECHO ist ein einladender Ort: Eine orange Sitzgruppe, helle Holzwände, bunt bemalte Leinwände als Dekoration. Kaffee, Kekse und Orangensaft warten auf die TeilnehmerInnen des heutigen Workshops. Sechs sind es insgesamt, verteilt über alle Altersklassen. Alena Strauss vom Verein JUKUS, die den Workshop gemeinsam mit ihrer Kollegin Edith Zitz leitet, schaltet Musik ein. Die Rolling Stones besingen „Mother’s little helper“, also Beruhigungsmittel. Die Protagonistin in dem Song nimmt sie ein, um im Alltag zurechtzukommen. Das Lied ist 55 Jahre alt, das Problem der Medikamentensucht noch immer aktuell.

Darum hat der Verein JUKUS, der seit sieben Jahren Suchtberatung betreibt, das Projekt „Die verschwiegene Sucht 2.0“ gestartet. Es geht darum, die Situation in der Steiermark besser zu erfassen und in Workshops über Medikamentenabhängigkeit aufzuklären. Der Verein schätzt, dass rund 21.000 SteirerInnen Schmerzmittel, Beruhigungstabletten und andere Psychopharmaka missbräuchlich verwenden. „Das ist aber eine wilde Hochrechnung aus Daten, die aus Deutschland kommen“, erklärt Strauss. Genaue Zahlen gebe es nicht.

Frauen besonders betroffen

Die Gründe, warum Menschen medikamentenabhängig werden, sind vielfältig. Die betagteste Teilnehmerin meldet sich zu Wort. Sie hat seit 70 Jahren Erfahrung mit psychisch Kranken in ihrer Familie und engagiert sich im Verein HPE (Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter). „Als erstes verschreibt das der Arzt, sonst kriegt man es gar nicht“, meint sie und kritisiert, dass in Krankenhäusern und Pflegeheimen zu häufig Schlaf- und Beruhigungsmittel verabreicht würden.

Obwohl genaue Daten fehlen, nimmt man an, dass insgesamt mehr Frauen abhängig sind. „Medikamente werden oft genommen, damit man im Alltag funktioniert“, sagt Zitz. In Befragungen gaben Betroffene als Ursachen unter Anderem geringe soziale Unterstützung, überfordernde Pflegetätigkeiten und geringe Perspektiven im Leben an. Auch belastende Arbeitsbedingungen und Sexismus am Arbeitsplatz spielten eine Rolle, bestätigt ein anwesender Allgemeinmediziner. „Eine Frau gilt als hysterisch, wenn sie sich im Betrieb auf die Hinterfüße stellt“, sagt er. „Aber eine Frau, die lächelt, ist ein erwünschtes Bild. Wer eine hohe Dosis Benzodiazepine (eine Gruppe von Beruhigungs- oder Schlafmitteln, Anm.) nimmt, lächelt.“

Ein kulturelles Problem

Auch MigrantInnen dürften überdurchschnittlich oft betroffen sein. Häufig sind sprachliche Barrieren ein Grund dafür, dass sie sich unnötige Medikamente über einen langen Zeitraum hinweg verschreiben lassen. Der Arzt erzählt, es kämen immer wieder Frauen in seine Praxis, die über Kopfschmerzen klagen. „Da stellt sich dann die Frage, ob ein Schmerz ein Schmerz ist oder nur ein Signal.“ Häufig fühlen sich die Patientinnen in ihrer neuen Umgebung nicht wohl, aber können dieses Gefühl nicht in Worte fassen. „Jede Kultur nimmt Schmerz anders wahr und drückt ihn auch anders aus“, erklärt Alena Strauss. ÄrztInnen, die unter Zeitdruck stehen, würden oft nicht genau genug zuhören und vorschnell Rezepte ausstellen.

„Dass wir auf dieses Thema gekommen sind, hängt mit der sozialen Situation auf dieser Seite der Mur zusammen“, meint Zitz. Während im Annenviertel in den migrantischen Communities vor allem Schmerz- und Beruhigungsmittel missbraucht würden, seien es in den traditionell bürgerlichen Bezirken meist Medikamente zur Leistungssteigerung. Edith Zitz: „Jedes Viertel hat seine eigene Sucht.“

Alena Strauss (links) und Edith Zitz vom Verein JUKUS gestalten Workshops zum Thema Medikamentensucht. Foto: ©JUKUS

Medikamentensucht hat ernste Folgen

Man unterscheidet zwei Typen von Medikamentenabhängigen: Die sogenannten Low-Dose Addicted nehmen immer die gleiche Dosis eines Wirkstoffs ein, um ein ausgeglichenes Leben zu führen. Die anderen steigern die Menge kontinuierlich. Ihnen merke man die Sucht viel eher an. „Sie sind weggetreten, hören nicht zu, merken sich nix“, beschreibt der Arzt. Gefährlich sind beide Arten der Sucht. Die langfristige Einnahme von Benzodiazepinen kann beispielsweise zu einer messbaren Hirnatrophie führen, einem Schwund von Gehirnmasse, wie er bei Demenz zu beobachten ist.

Wird ein Medikament plötzlich abgesetzt, können schwere Entzugserscheinungen bis hin zu lebensbedrohlichen Krampfanfällen auftreten. Vor allem bei SeniorInnen, die ein Medikament über Jahrzehnte eingenommen haben, sei ein Entzug oft nicht sinnvoll, so der Arzt. „Das Ziel ist dann ein möglichst geringer, selbstkontrollierter Konsum, nicht mehr Abstinenz.“

Es gibt Erfolgsgeschichten

Eine Teilnehmerin ist zum Workshop gekommen, weil sie ihre Großmutter auf dem Weg aus der Medikamentenabhängigkeit begleitet hat. Diese hatte jahrelang Tabletten eingenommen, die Enkelin beobachtete Persönlichkeitsveränderungen. Schließlich habe sie sie dazu gebracht, die Medikamente abzusetzen. „Am Anfang hat es Streit gegeben, aber es hat geklappt“, erinnert sie sich.

Der Workshop neigt sich dem Ende zu, die TeilnehmerInnen berichten von persönlichen Erlebnissen. Im Laufe des Jahres soll es weitere Workshops geben, dazu einen abschließenden Fachtag zu „Medikamentenabhängigkeit im interkulturellen Kontext.“ Alena Strauss betont, dass das Projekt kein Angriff auf die Medizin sei. „Benzodiazepine sind eine der besten Erfindungen, die es gibt, weil sie es uns ermöglichen, unglaubliche Belastungssituationen auszuhalten“, meint sie. „Aber wir müssen hinschauen und sehen, wann es umschwenkt und nicht mehr guttut.“

 

Infobox

Der Verein JUKUS (Verein zur Förderung von Jugend, Kultur und Sport) ist seit über 15 Jahren in Graz und in der Steiermark im inter- und soziokulturellen Bereich tätig.

Informationen zum Projekt: http://www.JUKUS.at/sucht

Aktuelle Termine und Workshops: http://www.JUKUS.at/aktuell

 

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