Der Sozialhistoriker und Künstler Joachim Hainzl thematisiert mit dem Gedankenexperiment „Transmural” die Ungleichheiten zwischen 8010 und 8020. Und was es braucht, um die beiden Teile der Stadt einander näherzubringen.
Autorinnen: Anna Graßmugg, Marie Komposch
Die Mur wird in Graz immer schon auch als Trennlinie gedacht. Sie trennt die Innen- von der Vorstadt, die bürgerlichen von den Arbeiterbezirken. In den Köpfen vieler Grazer:innen stellen rechtes Murufer – unter anderem mit den Bezirken Lend und Gries – und linkes Murufer mit der Inneren Stadt heute noch Gegensätze dar.
Über Mur und Mauern
Diese Gegensätze und Klischees zu überwinden, steht als Ziel im Zentrum des Projekts „Transmural” von Sozialhistoriker und Künstler Joachim Hainzl, der sich schon in der Vergangenheit wiederholt mit Fragen der Stadtidentität beschäftigt hat. Vom 5. November bis zum 3. Dezember konnte man am Europaplatz vor dem Bahnhof auch einen Infostand zu diesem Gedankenexperiment besichtigen. Begleitend dazu gab es bisher zwei Diskussionen. Das Projekt schließt am 4. Dezember mit einer Führung durch die Dauerausstellung „360 Graz” und einer Diskussion im Graz Museum.
Das Gedankenexperiment des Projekts spielt damit, den ersten Bezirk Innere Stadt aufzulösen und ihn, die Grenzen der früheren Stadtmauern überschreitend, auf die Bezirke Gries und Lend aufzuteilen. So will das Projekt also jenseits von Mauern einen Perspektivenwechsel und damit ein Umdenken anstoßen. Bildlich war das am Informationsstand vor dem Bahnhof durch Visualisierungen gelöst, die die neuen Bezirksgrenzen veranschaulichen sollen. Außerdem durch Fotomontagen, die Sehenswürdigkeiten beider Ufer in einen gemeinsamen Kontext rückten – den Dom mit dem Islamischen Kulturzentrum oder den Glockenturm am Schloßberg mit dem Sciencetower.

8020 vs. 8010
Tatsächlich weisen die beiden Stadtteile markante Unterschiede in der Entwicklung auf, die Hainzl bei einer Diskussion zum „alten und neuen Bezirk Lend” im <rotor> auch erörterte: Historisch galt der Grazer Westen mit dem Griesplatz schon immer als Transitgebiet. Vor allem Lend und Gries dienten später auch als erster Stopp für Zugezogene. Im Kontrast dazu steht der Glanz der bürgerlichen City im Osten, wo sich die Machtzentren von Religion und Politik niedergelassen haben. Die rechte Mur-Seite war hingegen schon immer von der Industrie geprägt, sagte der Sozialhistoriker.
Auch die Wohnsituation könnte unterschiedlicher nicht sein: Einerseits steht die Innenstadt unter dem Schirm des UNESCO Kulturerbe, weswegen die historischen Bauten noch erhalten sind. Andererseits wurden die Industriegebäude in Lend und Gries durch Neubauten ersetzt.
Wenn Gäste in die Stadt kommen, sagt Hainzl, dann präsentiere man ihnen das Wohnzimmer und die Küche, nicht aber den Keller oder die Abstellkammer des „Hauses Graz”. In diesem Zusammenhang spricht er auch von „sichtbaren“ und „unsichtbaren“ Problemen. Während das Drogenproblem in 8020 etwa anhand des Volksgartens ausgiebig öffentlich diskutiert würde, werde es in 8010 gekonnt unter den Teppich gekehrt.
Von verrucht zu trendy
Bei allen historischen Unterschieden gibt es aber auch aktuelle Entwicklungen. So betonte Maria Reiner, die an der Diskussion im <rotor> als Vertreterin des Stadtteilvereins „Annenviertel” mitwirkte, die vielen positiven Veränderungen in 8020. Repräsentativ dafür sei der Begriff des „Annenviertels”, der ursprünglich durch ein Kunstprojekt entstand und im Alltag für ein gewisses Gemeinschaftsgefühl sorge. Der Lendplatz habe sich längst von „verrucht zu trendy” entwickelt – nicht zuletzt aufgrund städtebaulicher Maßnahmen, wie der Eröffnung des Kunsthauses Ende 2003 oder der Begrünung. Inzwischen „verirre” sich auch regelmäßig die „8010-Prominenz“ zu ihrem Kiosk im Lend. „Man hat das Gefühl, die da drüben wollen langsam zu uns”, erwähnt sie nicht nur einmal an diesem Abend.
Perspektivenwechsel
Auf unsere Frage hin, welche Botschaft sich die Menschen von diesem Gedankenexperiment mitnehmen sollten, erwähnt Joachim Hainzl die Gespräche beim Infostand am Europaplatz. Junge Menschen, vor allem jene mit Migrationshintergrund, seien von der Idee positiv überrascht gewesen. In der älteren Generation sei das gedankliche Aufheben der Bezirksgrenzen auch auf Aufregung bis hin zu offenem Rassismus gestoßen. Diese Reaktionen bildeten das Stimmungsbild der Grazer Bevölkerung ab, wie auch Martin Amschl bestätigte, der als Mitglied der Bezirksvertretung Lend (SPÖ) an der Diskussion im <rotor> teilnahm. Auch er habe bei den alteingesessenen Bewohner:innen des Lend eine negative Einstellung bezüglich der Veränderungen, wie vor allem der hohen Migrationsrate, wahrgenommen. Dazu erklärte Hainzl: Ziel des Projektes sei es, genau diesem Denken entgegenzuwirken.
Titelbild: (von links nach rechts) Maria Reiner, Joachim Hainzl und Martin Amschl nach der Diskussion im <rotor> – Foto: Anna Grassmugg
- Die Führung zur historisch bedingte Teilung der Stadt Graz um 17 Uhr:
https://www.grazmuseum.at/event/die-historisch-bedingte-teilung-der-stadt-graz/
- Um 18 Uhr Diskussion “Zur Zukunft der Inneren Stadt”:
https://www.grazmuseum.at/event/transmural-zur-zukunft-der-inneren-stadt/
Für mehr Infos: https://transmural.blog/
