Johann Winkler steht vor einem Bauzaun. Dahinter sind die Enden der neu gebauten Gleise in der Vorbeckgasse zu sehen. Hinter dieser Baustelle liegt das Geschäft Egger & Co.
Titelbild: Johann Winkler vor der noch ruhenden Baustelle an der Ecke zur Annenstraße – Foto: Yara Höfer

Neutorlinie: Zwischen Großprojekt und Geschäftsalltag

Lesezeit: 5 Minuten

38 Millionen Euro für 1,2 Kilometer neue Straßenbahngleise: Die Neutorlinie ist derzeit das größte Infrastrukturprojekt im öffentlichen Nahverkehr. Mit dem Bauabschnitt „Annenstraße” geht das Vorhaben nun in die finale Phase. Doch was bedeutet diese Großbaustelle für die Wirtschaft entlang der Straße?

Absperrgitter, aufgerissene Straße, ein Gewirr aus Kabeln und Schienen und dahinter das Sanitätshaus Egger & Co. Ein kurzer Moment der Ruhe – dann klickt der Auslöser. Zuvor war Geduld gefragt: Immer wieder kreuzten Passant:innen das Bild. Ein Mann bleibt vor dem Schaufenster stehen, betrachtet die Auslage. Eine Frau verlässt das Geschäft und biegt in die Annenstraße ein. An der Ecke zur Vorbeckgasse wartet der Geschäftsführer der Filiale, Johann Winkler, vor einem Schild, auf dem steht: Trotz Baustelle ungestörter Verkauf”.

Aktuell pausieren die Bauarbeiten in der Quergasse zur Annenstraße, an der das Sanitätshaus zu finden ist, das Johann Winkler leitet. Doch auch jetzt, wo kein Baulärm durch die Vorbeckgasse hallt, nimmt der Geschäftsführer die Baustelle als Einschränkung wahr. Befürchten andere Geschäftsinhaber:innen und Mitarbeiter:innen in der Annenstraße ebenfalls wirtschaftliche Defizite durch das Bauprojekt Neutorlinie? Mit welchen Auswirkungen der Baumaßnahmen rechnen Passant:innen? Die Annenpost hat nachgefragt.

Das Projekt

Im Rahmen der Innenstadtentlastung wird bereits seit 2023 an einer neuen Grazer Straßenbahnlinie gearbeitet. Der Anschluss der Neutorlinie an das bestehende Schienennetz in der Annenstraße steht kurz bevor. Während die Baustelle in der Vorbeckgasse stillsteht, wird an anderer Stelle weitergearbeitet.  Die neue Trasse vom Jakominiplatz über die Neutorgasse und den Andreas-Hofer-Platz wird schlussendlich das Öffi-Nadelöhr Herrengasse entlasten”, erklärt der Vorstandsvorsitzende der Holding Graz, Wolfgang Malik, im BIG, der Bürger:inneninformation der Stadt Graz, das Bauprojekt.

Bis zum 24. Mai verkehren die Straßenbahnen weiterhin durch die Annenstraße. Doch schon jetzt enden die Linien 4 und 7 an der Laudongasse und werden dort durch Ersatzbusse abgelöst – für Fahrgäste bedeutet das zusätzliches Umsteigen und Wartezeiten. Auch der Individualverkehr ist betroffen: Sperren im Zuge der Bauarbeiten führen zu Umleitungen und stockendem Verkehr. Geschäfte bleiben bislang unbeeinträchtigt, da sich die Maßnahmen derzeit auf die Remise 3 in der Alten Poststraße beschränken. Mit der bevorstehenden Schließung der Annenstraße dürfte sich das jedoch ändern. Was bedeutet eine derart umfangreiche Baustelle für den Handel vor Ort? Bleibt der Verkauf tatsächlich ungestört?

Das Hintergrundbild zeigt die Baustelle an der Remise drei. Davor liegt der Plan für die Ersatzbuss ab 24. Mai. Dieser Plan ist in der Bildbeschreibung verlinkt.
Aktuell wird an der Remise 3 gebaut. Mit den Arbeiten in der Annenstraße ab 24. Mai wird zusätzlicher Ersatzverkehr notwendig. – Foto: Yara Höfer – Grafik: Innenstadtentlastung der Stadt Graz

Wirtschaftliche Verluste – Hilfe bleibt aus

Tatsächlich spricht Johann Winkler sehr wohl von wirtschaftlichen Einbußen: Die Kundenfrequenz ist niedriger, die Laufkunden fallen weg.” Das Baugeschehen sorgt also schon für spürbare Einschränkungen – und das, obwohl es sich bislang nur” auf die Vorbeckstraße beschränkt. Wenn auch die Annenstraße aufgegraben wird, könnte aus der aktuellen Belastung ein echter wirtschaftlicher Kraftakt werden. Durch die komplizierten Zufahrten wird der Anschluss der Schienen die Situation weiter erschweren”, erklärt der Geschäftsleiter. Je nachdem, wie gravierend die wirtschaftlichen Auswirkungen der Baustelle tatsächlich sein werden, wolle er auch auf Förderungen zurückgreifen.

Allerdings ist die Website der Stadt Graz, auf der Unternehmen um eine Baustellenförderung ansuchen können sollten, nicht mehr aufrufbar (Stand Mai 2025). Die Abteilung für Wirtschafts- und Tourismusentwicklung der Stadt Graz erklärt telefonisch diesbezüglich, dass aufgrund von fehlendem Budget momentan keine Förderung möglich sei. Speziell für Anliegen die Innenstadtentlastung betreffend, ist auf der Webseite der Stadt Graz der Kontakt-Ombudsmann” angegeben. Die Ansprechpartner:innen, die diese Telefonnummer betreuen, verweisen darauf, dass die Nachfrage nach Unterstützung zuletzt stark zurückgegangen sei. Schon seit Monaten gebe es keine Anrufe bezüglich wirtschaftlicher Entschädigung mehr – lediglich zu Beginn der Bauarbeiten an der Neutorlinie im Jahr 2023 habe es häufiger Anfragen gegeben. Doch ob dieser Rückgang auf mangelndes Interesse oder auf die fehlende Zugänglichkeit des Angebots zurückzuführen ist, bleibt offen. Klar ist: Wer Hilfe sucht, findet derzeit keine Möglichkeit, einen Antrag zu stellen.

Bekannte Probleme

Wer in der Annenstraße einkauft oder etwas konsumiert, also länger verweilt, wohnt in der Nähe oder ist mit dem Rad unterwegs. Das ergaben die Gespräche der Annenpost mit Passant:innen. Für sie werden die Geschäfte und Lokale, laut „Ombudsmann“, durch Fußgängerprovisorien zugänglich bleiben. Darum vermutet Christian Dobnik, Inhaber des Cafes Foyer und der Vermuteria, dass weder die Ersatzbusse Einbußen, noch die höhere Straßenbahnfrequenz Profit mit sich bringen werden. Seine Kund:innen stammen ohnehin aus der Gegend, denn die Menschen, welche mit den Straßenbahnen unterwegs sind, würden sowieso nicht aussteigen. 

Dieses altbekannte Problem könnte mitunter Grund für die zahlreichen Leerstände in der Annenstraße sein. Auch die Recherche der Annenpost zum Thema dieses Beitrages zeigt: Ein Großteil der Menschen, die in der Straße unterwegs sind, halten sich hier auf, um ein-, aus-, oder umzusteigen – nicht um zu bleiben. Genau deshalb vermuten viele, dass der Ersatzverkehr keine Änderungen oder Einschränkungen für sie mit sich bringen wird. Anders sieht das Katrina Peritz, eine Passantin, mit der die Annenpost bei der Straßenbahnhaltestelle Südtirolerplatz/Kunsthaus gesprochen hat. Die Station gehört zu jenen, die ab Mitte Mai nicht mehr bedient werden. „Ich benutze die Bim hier fast täglich, natürlich wird mich das einschränken”, erklärt Frau Peritz. 

Das Bild besteht aus zwei Teilen. Links ist Birgit Otter-Wagner im Geschäft "Der Augenoptiker" zu sehen, rechts Christian Dobnik hinter seiner Bar.
Birgit Otter-Wagner und Christian Dobnik in Geschäften der Annenstraße. – Foto: Yara Höfer

Vergangenheit und Zuversicht

Auch Birgit Otter-Wagner, Mitarbeiterin des Augenoptikers Kurt Otter, ist sich sicher: „Lustig wird’s natürlich nicht für die Kund:innen.” Aber: „Jammern hilft nichts.” Man habe außerdem schon Erfahrung mit Baustellen. Immer wieder wird diskutiert, wie die Annenstraße modernisiert oder gar „wiederbelebt” werden kann. Doch bei der Recherche der Annenpost zu diesem Thema wurde immer wieder deutlich, dass viele die ewige Debatte über Lösungen satt haben. „Ich bin seit 20 Jahren da, und 10 davon werde ich gefragt, was gut für die Annenstraße wäre“, sagt ein Geschäftsinhaber, der anonym bleiben möchte.

Einige der Vorschläge, die über die Jahre diskutiert wurden, wurden auch umgesetzt, beispielsweise beim großen Umbau der Annenstraße 2012. Damals war für den Augenoptiker keine finanzielle Förderung durch die Stadt Graz notwendig, berichtet Frau Otter-Wagner. Eine Sperre des Hauptbahnhofes sorgte in der Vergangenheit allerdings für Umsatzeinbußen. Die wirtschaftlichen Folgen der am 24. Mai startenden Bauarbeiten könne man noch nicht abschätzen. Aber es wird vorbeigehen”, schließt sie ihre Erzählungen.

 

Titelbild: Johann Winkler vor der noch ruhenden Baustelle an der Ecke zur Annenstraße – Foto: Yara Höfer

Entlastung eines Nadelöhrs

Seit März 2023 wird im Rahmen der Innenstadtentlastung an der Neutorlinie gebaut. Aktuell durchqueren laut BIG werktags zwischen sieben und acht Uhr 119 Straßenbahnen die Grazer Herrengasse. Damit ist das Limit erreicht. 1 153 Meter neue Schienen sollen eine Taktverdichtung im Straßenbahnnetz der Landeshauptstadt ermöglichen. Doch bevor die Linien 16 und 17 ihren Betrieb aufnehmen, müssen die über 300 000 täglichen Fahrgäste der Graz Linien mit Ersatzbussen Vorlieb nehmen. Die Strecken werden vom Jakominiplatz über den Hauptplatz führen. Die Linie E1 wird bei der Haltestelle Eggenberg/UKH, die Linie E6 bei Smart City enden. 

Informationen zum Ersatzverkehr finden Sie hier.

Ich wurde 2004 in Graz geboren und bin seitdem in der Stadt und ihrer Umgebung unterwegs. Seit 2024 suche ich dabei spannende Annenpost-Geschichten für euch :)

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