Der Autor Heimo Halbrainer steht in der Annenstraße und hält das Buch in der Hand.

Annenstraße 1938 – jüdische Geschichten neu erinnert

Lesezeit: 3 Minuten

Mit dem Buch “Annenstraße 1938 – Raub und Vertreibung” wird jüdische Stadtgeschichte auf neue Weise sichtbar. Bei einem Spaziergang erzählt Co-Autor Heimo Halbrainer über Erinnerung und Aufarbeitung von Nazi-Terror und Arisierung.

Autorinnen: Alissa Tschann, Elisabeth Umbauer

Zur Präsentation des Buches im Graz Museum Anfang November ist der Saal gut gefüllt. Die drei Autoren Gerald Lamprecht, Heimo Halbrainer und Joachim Hainzl wollen an diesem Abend von der Geschichte der Annenstraße und den Schicksalen der 33 jüdischen Geschäfte erzählen, die von der Arisierung in der Nazi-Zeit betroffen waren. 

Das Buch porträtiert nicht nur diese Familiengeschichten, zu Beginn beschäftigt es sich auch mit der Historie und der heutigen Bedeutung der einst blühenden Einkaufsstraße. Das Buch wurde vom Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit CLIO herausgegeben. Dieser hat in Zusammenarbeit mit dem steirischen herbst schon 2023 den Raub an jüdischen Geschäftsleuten in der Annenstraße thematisiert.

Vergessene Geschichten? 

So führten in der Annenstraße 38 Elias und Seraphine Landskroner eine Geschirrhandlung. Auch das damalige Union-Kino in der Annenstraße 34 war von 1936 bis 1938 im Besitz von vier Jüd:innen: Paul Engel, Friederike Weinrebe, Alois Weil und Siegfried Unger. Nur einige Beispiele für die lebendige jüdische Stadtkultur in der Zwischenkriegszeit, die uns Heimo Halbrainer auf einem gemeinsamen Spaziergang näherbringt.

Wir treffen uns beim Roseggerhaus. Im Zentrum der Annenstraße herrscht reger Verkehr, viele Menschen spazieren eilig an der Hausnummer 23 vorbei, wo einst Albert Kern ein erfolgreiches Kleidungsgeschäft führte. In den 1920er-Jahren räumte der renommierte Betrieb bei Schaufensterwettbewerben regelmäßig Preise ab. Mit der NS-Machtübernahme 1938 endete seine Berufstätigkeit. Albert Kern wurde, wie zahlreiche andere jüdische Besitzer:innen, nach Wien vertrieben und später im Ghetto Theresienstadt ermordet. Er war eines der 43 Opfer aus der Annenstraße.

Auf dem Bild ist das heutige Roseggerhaus in der Annenstraße zu sehen.

Das Roseggerhaus erinnert als eines der wenigen erhaltenen Gebäude an die Geschäfte in der Annenstraße vor 1938. – Foto: Alissa Tschann

Auch die Straßenuhr des Juweliergeschäfts von Heinrich Steiner war ein Markenzeichen der Annenstraße. Für sein Geschäft wurde 1938 ein kommissarischer Verwalter eingesetzt, der ein Konkursverfahren einleitete. Jüdische Eigentümer:innen wurden systematisch vertrieben, ihre Geschäfte in “arische” Hände übergeben – oft unter Gewaltandrohung. Die Arisierung sei ein Wechselspiel der politischen Akteure und der Bevölkerung gewesen, die diese ideologisch mitgetragen hätte. “Sie wäre ohne die direkte oder indirekte Beteiligung der Bevölkerung in der Form daher nicht möglich gewesen”, schreibt Gerald Lamprecht im Buch. 

Nach Kriegsende kam Steiner aus den USA zurück nach Graz. Dort bemühte er sich um Rückstellungsverfahren. Er bekam jedoch nur einzelne Möbelstücke zurück, vieles war durch Fliegerbomben zerstört worden. Halbrainer erzählt, dass nur wenige Jüd:innen wieder nach Graz zurückkamen. Sie bemühten sich aus dem Ausland um die Rückgabe ihres Vermögens. Das daraus erzielte Geld wurde meist für die Anwaltskosten gebraucht – eine weitere Demütigung für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. 

Gegen das Vergessen 

“Seit den 90er-Jahren hat sich viel verändert”, erzählt uns Halbrainer, der sich seit Jahrzehnten für die Erinnerungskultur in Graz einsetzt. Der Generationswechsel von Entscheidungsträger:innen bringe neue Perspektiven. Auch das Interesse und Engagement der Zivilbevölkerung ist ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen. Die Stolpersteine in der Annenstraße waren beispielsweise eine Privatinitiative. Die Sichtweise auf diese historisch geprägte Straße hat sich für den CLIO-Leiter wesentlich verändert. “Man nimmt eine Stadt anders wahr, wenn man sich mit der Erinnerungskultur dort beschäftigt.”

Annenstraße im Wandel

Nach dem Wiederaufbau blühte die Annenstraße in den 1950er-Jahren wieder auf und erfreute sich großer Beliebtheit bei Tourist:innen. “Die Annenstraße, das war der Ort, wohin man auch von weither fuhr, um einmal Stadt zu schnuppern. Mit dem Zug nach Graz und dann die Annenstraße einmal auf und ab – fertig war der erlebnisreiche Einkaufstag”, steht im Buch.

Auch heute prägen vor allem Bewohner:innen, Geschäfte und kulturelle Vielfalt das Bild der Annenstraße. Die von Migrant:innen geführten Läden bringen Leben in die Straße und bieten, was die Nachbarschaft braucht. Im ersten Kapitel schreibt der Autor Joachim Hainzl: “Die Annenstraße erfüllt daher weiterhin ihre Funktion als Tor zur Stadt, einer Stadt der Vielfalt”.

 

Titelbild: Heimo Halbrainer hat mit seinen beiden Co-Autoren die jüdische Geschichte der Annenstraße neu erzählt. – Foto: Alissa Tschann

Infobox
Weiterer Annenpost-Artikel zur Geschichte der Annenstraße:
Mitten in der Krefelderstraß’n

Weitere Infos zum Verein CLIO

 




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