Ein Arzt für die Vielfalt

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Vor etwa einem Jahr eröffnete der Kinderarzt Michael Lindinger seine Ordination in der Keplerstraße 88. Seitdem hatte er Erfahrungen mit Kindern verschiedenster Herkunft gemacht.

Man kann sagen, dass Michael Lindinger gut im Annenviertel gelandet ist. Als der Kinderarzt, der davor fünf Jahre lang in Deutschlandsberg ordinierte, im April letzten Jahres seine neue Praxis in der Keplerstraße bezog, da sei ihm zunächst aufgefallen, wie vielfältig das kulturelle und kulinarische Angebot im Viertel ist. Auch die Annenstraße hatte er aus seiner Kindheit anders in Erinnerung, als belebte Einkaufsstraße nämlich. “Jedes Mal, wenn wir mit dem Zug nach Graz gekommen sind, konnte man direkt vom Hauptbahnhof in die edlen Geschäfte der Annenstraße gehen”, sagt Lindinger, der in seiner Ordination, die in knallbunten Farben erstrahlt, nicht über zu wenig Besuch klagen kann. Kinderärzte seien im Viertel sehr gefragt, selbst an schwachen Tagen habe er rund 35 kleine PatientInnen zu betreuen.

Mütter warten mit ihren Kindern auf ihren Termin – Foto: Maximiliano Jiménez Arboleda

Die vielen PatientInnen, die aus aller Welt kommen, besuchen die Ordination oft ohne Termin, trotzdem bleiben Lindinger und seine Mitarbeiterinnen stets gelassen und nehmen sich Zeit für jeden Einzelnen. Mit gesellschaftlicher Vielfalt kam er schon zuvor, als Schularzt im Pestalozzi Gymnasium, in Kontakt. An eine Klasse erinnert er sich besonders, da seien die Schüler aus Osteuropa, Asien und Afrika gekommen, hätten acht verschiedene Muttersprachen mitgebracht und jedes Kind habe zwei bis drei Sprachen beinahe fließend gesprochen. In Österreichs Schulen liegt der Anteil von SchülerInnen ohne österreichischen Pass bei 11,9%, wobei der Anteil in Wien, Graz und Linz höher ist. Gerade die Arbeit mit Menschen verschiedenster Kulturen sei für ihn ein Grund gewesen, seine Ordination ins Annenviertel zu verlegen, sagt Lindinger.

Herausforderungen des ärztlichen Alltags

Lindinger erlebt diese Vielfalt aber nicht nur als Bereicherung, sondern durchaus auch als Herausforderung. Dabei sind unter anderem Kommunikationsbarrieren gemeint, welche aber nicht so häufig vorkommen, wie Lindinger sich das vorgestellt hatte. In der Steiermark liegt der Anteil an Schulkindern mit nicht-deutscher Muttersprache bei 15%. Teilweise hat er syrische Flüchtlingskinder als Patienten, welche nach bereits ein paar Monaten in Österreich über gute Deutschkenntnisse verfügen. Meistens beherrschen sie die Sprache auch besser als ihre Eltern, weswegen sie häufig bei der Anmeldung für diese übersetzen. Außerdem haben viele die Telefonnummer eines „Dolmetschers“ eingespeichert für Notfälle. Sonst verwenden die Mütter ein Übersetzungsprogramm am Handy.

Als größere Herausforderung empfindet Lindinger das Verhalten mancher Eltern. Die subjektive Gesundheitswahrnehmung von Personen mit Migrationshintergrund sei deutlich schlechter, was sich für den Kinderarzt vor allem in der Besuchsfrequenz widerspiegle. Die Eltern suchen den Arzt mit ihren Kinder häufig wegen Kleinigkeiten wie Husten, Schnupfen oder Bauchschmerzen auf. Diese Wahrnehmung lässt sich auch statistisch nachweisen: 79% der österreichischen Bevölkerung ab 15 Jahren bezeichnen ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut, während Personen mit Migrationshintergrund zu 75% ihren Gesundheitszustand positiv einstufen. Unter den Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien oder der Türkei sind es dagegen nur 57%.

Auch kulturell gäbe es einige Besonderheiten. “Der Vater hat meistens das Sagen, und ab und zu kommt es vor, dass die Mütter mir nicht einmal die Hand geben dürfen”, sagt Lindinger. Seine Arbeit als Arzt wird dabei allerdings nicht eingeschränkt: ”Eine Behandlung wurde noch nie verweigert und normalerweise halten die Eltern immer gut die Therapien ihrer Kinder ein. Besonders Impfungen haben einen sehr hohen Stellenwert.” Lindinger meint, das ließe sich darauf zurückführen, dass in deren Herkunftsländern, Krankheiten wie Kinderlähmung noch sehr präsent sind. Im Durchschnitt sind Migranten bei ihrer Ankunft in Österreich seltener geimpft. Gegen FSME sind zum Beispiel, laut Statistik, nur 46% geschützt, während es bei Österreichern 70% sind. Lindinger selbst fällt zusätzlich noch eine größere Häufigkeit von vererbbaren Krankheiten auf. Er glaubt, dass diese darauf zurückzuführen ist, dass in den Herkunftsländern Ehen zwischen engerer Verwandtschaft noch legal und teilweise üblich sind und sich deshalb seltene vererbbare Krankheiten hartnäckig halten, die die Kindern bis heute tragen.

Beobachtungen des sozialen Alltags

Lindinger ist wichtig, dass sich die Besucher seine Ordination willkommen fühlen, egal welche Sprache sie sprechen oder welche Herkunft sie haben. Das spiegelt sich auch in der Gestaltung seines Empfangsraumes wider. Auf einem blauen Schild neben der Anmeldung werden Kinder und Eltern in 26 verschiedenen Sprachen willkommen geheißen.

Deutsch, Englisch, Spanisch, Türkisch, Arabisch, Serbisch, Albanisch – alles dabei. – Foto: Maximiliano Jiménez Arboleda

Die Kinder in seiner Ordination verhalten sich normalerweise kaum anders als österreichische Kinder, meint Lindinger: ”Sie sind neugierig, verspielt, häufig unruhig, emotional aber zu großem Teil gut erzogen. Trotzdem fällt mir bei manchen Gruppen eine kulturelle Prägung auf. Kinder mit afrikanischem Hintergrund sind zum Beispiel sehr neugierig und wollen alles erkunden. Sie streiten sich auch etwas häufiger mit ihren Geschwistern oder anderen Kindern. Bei der Ernährung fällt mir ein hoher Konsum an Verdünnungssäften und Süßigkeiten auf.” Einen Einblick auf das Familienleben seiner PatientInnen bekommt er meistens dann, wenn sie Bilder von Zuhause auf ihren Handys zeigen.

Auf die Frage, was Lindinger an seiner Arbeit als Kinderarzt am besten gefällt antwortet er: ”Ich freue mich immer wieder, kleine Erfolgsgeschichten mitzuerleben. Als ich damals noch auf der Ambulanz im LKH arbeitete, kam fast jede Woche ein Araber mit seiner Tochter zu mir in Behandlung . Beide haben schlecht Deutsch gesprochen. Letztens habe ich herausgefunden, dass die Tochter die Matura perfekt bestanden hat und jetzt in Kairo Medizin studiert. Ein anderer Junge, den ich früher im Pestalozzi Gymnasium behandelte, kam aus sehr einfachen Verhältnissen und seine Eltern sprachen kaum Deutsch. Vor kurzem war er hier mit einem seiner jüngeren Geschwister und hat mich wiedererkannt. Er studiert jetzt Ingenieurwesen auf der FH und spricht mittlerweile akzentfreies Deutsch.“

Lindinger ist der Meinung, dass bei Integration die Verantwortung auf beiden Seiten liege. Leute, die nach Österreich kommen, müssen sich einerseits anpassen, sollen aber nicht sich selbst und ihren Glauben aufgeben. Gleichzeitig sollte auch von österreichischen Bürger ein unvoreingenommenes Entgegenkommen da sein. “Nur wenn man aufeinander zugeht, können sich Freundschaften bilden”, sagt Lindinger.

Ein halbkolumbianischer Hobbymusiker der Hard Rock, Metal, 80s Pop, Grunge, Punk, Fußball, Listen, Statistiken, Filme, Star Wars, Serien, Lasagne und Bier mag, Bass und Gitarre spielt und sich konstant über alles und jeden lustig macht.

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