Paul Nitsche hat das Attentat im BORG Dreierschützengasse aus nächster Nähe erlebt. Ein Gespräch mit dem evangelischen Pfarrer, Religionslehrer und Seelsorger über die Konfrontation mit dem Tod und die Kraft der Gemeinschaft.
Autor:innen: Jana Eitler und Klemens Bernhardt
Paul Nitsche öffnet uns die Türe des Pfarramtes, direkt neben der Kreuzkirche. Wärme, weihnachtliche Dekoration und Musik aus dem oberen Stockwerk verleihen dem Raum eine heimelige Atmosphäre. Dann wird alles ganz still und die Gedanken wandern zurück zu einem der prägendsten Momente im Leben des Seelsorgers.
Der sechsfache Familienvater entschied sich nach seiner Matura für ein Theologiestudium in Wien. Anschließend machte er die Ausbildung zum evangelischen Pfarrer und war neun Jahre als Militärpfarrer tätig, bevor er 2010 in seine Heimatpfarre nach Graz zurückkehrte. Parallel dazu ist Nitsche auch Seelsorger und Religionslehrer am BORG Dreierschützengasse. Am 10. Juni dieses Jahres erlebte er dort den Amoklauf hautnah mit, bei dem ein bewaffneter ehemaliger Schüler zehn Personen und sich selbst das Leben nahm. Ein halbes Jahr danach lässt er seine Erfahrungen und Gedanken noch einmal Revue passieren.
Annenpost: 2025 neigt sich dem Ende. Es war ein Jahr, das ganz Graz stark geprägt hat. Wie reflektieren Sie über das Jahr?
Paul Nitsche: Das Jahr ist für mich geprägt durch den 10. Juni. Eine Erfahrung, bei der man sich zusammen mit anderen in eine Situation zwischen Leben und Tod begibt, macht etwas mit einem. Zudem bin ich mit 50 Jahren gefühlt gut in der Lebensmitte und beginne darüber nachzudenken, was noch auf mich zukommt. Dass das Leben einem geborgt und endlich ist, weiß ich als Pfarrer ohnehin. Die Konfrontation mit dem Leben und dem Tod ist Teil meines Berufs, doch dass dies auch für mich persönlich gilt, ist mir heuer besonders bewusst geworden.
Sie haben das Attentat aus nächster Nähe erlebt. Wie haben Sie diesen Tag in Erinnerung?
Der 10. Juni war eigentlich ein Tag wie jeder andere. Und wäre nicht jemand mit einer Waffe in die Schule marschiert, wäre es auch dabei geblieben. Ich war in meiner Freistunde alleine in einer Klasse, die Tür war offen, als es plötzlich laut wurde. Die Geräusche konnte ich zunächst gar nicht zuordnen, ich dachte, es wäre nur Baulärm. Als ich dann aber die Patronenhülsen auf den Boden fallen hörte, wurde mir klar, dass es gefährlich werden könnte. Die nächsten Augenblicke erlebte ich wie in Zeitlupe. Ich begann, über mein Leben zu reflektieren und dachte mir: „Wenn es jetzt vorbei wäre, wäre das OK, aber schon irgendwie schade.“ Dann hatte ich meine Familie im Kopf und entschied mich dazu, wegzurennen. Ich denke, er hat mich schon wahrgenommen, aber ein Stockwerk darunter fühlte ich mich – bei aller Verrücktheit der Situation – plötzlich irgendwie wieder sicher. In diesem Moment dachte ich mir: „Das war jetzt aber nicht echt.“ Dann sah ich eine Schülerin am Boden und bemerkte eine Stille, die es davor in dieser Schule noch nie gab.
Hätten Sie rückblickend in dieser Situation anders gehandelt?
Diese ganzen Was-wäre-wenn-Überlegungen führen zu nichts, es war einfach so. Der Moment kommt einmal und ist dann wieder vorbei, man kann ihn nicht wiederholen oder trainieren. In diesem Moment ist es nicht wirklich ein kluges Überlegen, sondern es ist viel eher ein Reagieren mit allen Ressourcen, die das Leben einem bis dato ermöglicht hat. Für mich spielt die Ressource des Vertrauens und des Glaubens hinein, die Priorität der Familie und auch der Aspekt, dass ich lieber aktiv als passiv reagiere. Darum bin ich im Nachhinein froh, dass mir etwas Gescheites eingefallen ist.
Sie sind nicht nur Pfarrer und Religionslehrer, sondern auch Notfall-Seelsorger. Wie schwierig war es für Sie, sich von der „Opferrolle“ zu distanzieren und für andere da zu sein?
Zum einen bin ich in der glücklichen Lage, nicht allzu viel Schreckliches gesehen zu haben. Zum anderen bin ich souverän geblieben, das heißt, ich konnte etwas tun. Gänzlich in einer Opferrolle zu sein und keine Handlungsfähigkeit mehr zu haben, ist denke ich das, was unsere Psyche am schlechtesten aushält.
Als Notfall-Seelsorger ist man nicht in einer Therapie-Situation, in der man Gespräche führt. Wir waren kollektiv in einem Ausnahmezustand, unser aller Welt wurde an diesem Vormittag durcheinandergerüttelt. Ich habe dann anderen Leuten zugehört und habe ihnen meine Hand auf den Rücken gelegt. Die Frage „Wie geht’s?” braucht man in dieser Situation nicht zu stellen. Es war voll allem dieses Dasein. In den späteren Tagen sind dann allerdings immer wieder Leute bewusst auf mich zugekommen und wollten mit mir reden. Sie haben sich in mir jemanden erwartet, der sich mit dem Thema Schuld, Religion und dem Tod auseinandersetzt.
Wie haben Sie in den Tagen und Wochen danach das Erlebte persönlich und mit anderen Betroffenen aufgearbeitet?
Bereits in meiner Ausbildung habe ich gelernt: In der Katastrophe zählt immer der nächste Schritt. Die Frage, wann wir wieder in die Schule gehen werden, stellen sich die Systeme, die Medien und die Journalist:innen. Aber im Moment ist man einfach froh, wenn man am Abend zum Schlafen kommt. Jede Seele reagiert anders auf eine solche Situation und man weiß oft selber gar nicht, wie man reagiert. Schließlich fehlt einem einfach der Vergleich. In einer Ausnahmesituation zeigt man auch Ausnahmereaktionen, das ist völlig normal. Auch wenn Menschen einen Heulkrampf bekommen, die normalerweise nicht einmal eine Träne vergießen, ist das ok. Ich sage zu ihnen dann oft: „Wann sollst du weinen, wenn nicht jetzt.“ Das ist eine enorm wichtige Botschaft für Menschen in Ausnahmesituationen.

Wie gehen Sie heute in Ihrem Beruf als Pfarrer und Religionslehrer damit um?
Wir alle merken, dass die Religionen in Europa gerade einen Strukturwandel erleben. Oft hat man auch den Eindruck, dass die Relevanz von Religion und Glauben sinkt. Dieses Thema beschäftigt mich als Pfarrer natürlich besonders. Aber bei einer Katastrophe passiert etwas, das außerhalb des menschlichen Handlungsrahmens steht. Die Religion behandelt in gewisser Weise eine ähnliche Thematik, nämlich dieses Nicht-Verfügbare. Bei manchen Dingen brauchen wir nicht mitreden, dafür ist der Mensch zu klein. Ich habe daher Religion gerade zu dieser Zeit als sehr wichtig empfunden.
Auch der Religionsunterricht hat sich verändert. Zu Beginn gab es von manchen Schüler:innen das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Gleichzeitig hatten andere das Bedürfnis, eben nicht mehr darüber zu sprechen. Der Unterricht in Kleingruppen ermöglicht es mir, mehr über die persönlichen und familiären Hintergründe der Kinder und Jugendlichen zu erfahren. Auf diese Weise entsteht eine persönliche Beziehung, die in einer solchen Situation deutlich spürbar ist.
In Ihrem ORF-Portrait „Kreuz und quer“ erläutern Sie, dass der gemeinschaftliche Zusammenhalt nach dem Attentat sehr wichtig war. In welchen Momenten haben Sie das besonders gespürt?
Das vertraute Miteinander im Lehrerkollegium habe ich vorher noch an keiner Schule so erlebt. Jeder hat sich auf seine ganz eigene Art und Weise eingebracht, um diese Tage und Wochen danach gemeinsam durchzustehen. Auch zu den Schülerinnen und Schülern entstand ein ganz besonderes Verhältnis. Oft fragte der Lehrer die Schülerin, wie es ihr gehe und die Schülerin stellte dieselbe Frage zurück. Das ist durchaus ungewöhnlich.
Weihnachten steht vor der Tür. Ein Fest, bei dem Zusammenhalt und Besinnlichkeit im Mittelpunkt stehen sollen. Nehmen Sie das Weihnachtsfest dieses Jahr anders wahr?
Ja, ganz bestimmt. Ich habe zwar niemanden persönlich verloren, jedoch kenne ich diese Erfahrung als Pfarrer und auch als Privatperson. Doch wenn jemand so sinnlos stirbt, macht es das nochmal viel schwieriger. Gerade der erste Geburtstag, das erste Weihnachten oder der erste Jahrestag nach so einer Katastrophe geht den Angehörigen in der Trauerphase besonders nahe. Das kann man auch an unserer Schule gut beobachten. Dieses Jahr wollen wir einen gemeinsamen Weihnachtsgottesdienst mit den christlichen Schüler:innen feiern. Wir Religionslehrer haben uns überlegt, ob wir auch den 10. Juni ansprechen sollen. Uns war schnell klar, dass wir das unbedingt machen wollen. In den Fürbitten werden wir bewusst auf jene Familien eingehen, bei denen dieses Weihnachtsfest ein Platz leer bleibt.
Was würden Sie Menschen, die gerade eine schwere Zeit durchleben, mit auf den Weg geben? Wie kann man auch in Krisenzeiten positiv bleiben?
Jeder Mensch reagiert in solchen Momenten anders. Auch die Ressourcen, die jeder dafür braucht, unterscheiden sich. Für manche ist es der Glauben, das Gebet oder das Miteinander. Jedenfalls braucht es die Fähigkeit, das Erlebte in sein Leben integrieren zu können, denn vergessen wird man es nie. Durch meine Ausbildung und Erfahrung fallen mir drei Dinge ein, die so eine Zeit etwas erleichtern könnten. Erstens: das Eingestehen, dass man nicht alles kontrollieren kann. Zweitens: überlegen, was der nächste Schritt ist. Und wenn es nur ein ganz kleiner Schritt ist, ist es wunderbar. Drittens: sich an die guten Erfahrungen und an die Zuversicht erinnern. Also zu wissen, die Welt wird irgendwann wieder in Ordnung sein.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich würde mir wünschen, dass die hoffnungsvollen Momente mit all ihren Perspektiven und mit der Neugierde für die Zukunft die Zeit der Dunkelheit, Traurigkeit und Aussichtslosigkeit überwiegen. Denn nach der längsten Nacht werden die Tage wieder länger.
Titelbild: Pfarrer Paul Nitsche in der Kreuzkirche – Foto: Christoph Aro
