Großkirchen in Österreich kämpfen mit einem immer größer werdenden Mitgliederschwund. Gemeinschaften von Freikirchen hingegen wachsen kontinuierlich. Bei jungen Menschen scheint diese Art, den eigenen Glauben auszuleben, gerade so richtig zu boomen. Welche Gründe es für den Hype gibt und welche Problematiken möglicherweise dahinterstecken.
Als die Zwillinge Johannes und Philipp Mickenbecker 2016 mit ihrem YouTube-Kanal „The Real Life Guys” begonnen hatten, erlangten sie schnell große Bekanntheit. Das war vor allem ihren aufwändigen DIY-Projekten geschuldet. Fans konnten in ihren Videos beispielsweise mitverfolgen, wie alte Badewannen zu U-Booten oder Drohnen wurden. Nach Philipps Krebserkrankung nutzten die Brüder jedoch ihre Reichweite, um den Zuseher:innen ihren Glauben an Gott näherzubringen, der ihnen in der schweren Zeit nach der Diagnose Halt gab. Auch die Influencerinnen und Zwillingsschwestern Lisa und Lena Mantler, die durch ihre TikTok-Tänze (ehem. musical.ly) berühmt wurden, teilen heute vermehrt Videos, in denen sie über ihr Leben in einem freikirchlichen Umfeld sprechen.
Inspiriert durch christliche Influencer:innen wie sie, scheinen gerade junge Menschen Gefallen an freikirchlichen Gemeinschaften zu finden. Aber nicht nur Influencer:innen haben einen großen Einfluss, sondern auch die Freikirchen selbst nutzen soziale Medien, um auf sich aufmerksam zu machen.
Dass Freikirchen auf moderne Kommunikation zurückgreifen, sei kein neues Phänomen, meint der Theologe Christian Feichtinger von der Universität Graz. Laut ihm haben sie das immer schon getan. So waren sie die Ersten, die christliche Radio- und Fernsehsender gegründet haben, und heute sind es eben soziale Medien und das Internet, über die sie kommunizieren. Der Grund dafür sei der Missionarsgedanke, der in vielen Freikirchen stark verankert ist. „Von diesem Selbstverständnis, auf Leute bewusst zuzugehen und sie zu missionieren, ist die Anstrengung natürlich sehr groß, um gute Kommunikationskanäle dafür zu finden”, erklärt der Experte.
Feichtinger hat katholische Religionspädagogik, Religionswissenschaft und angewandte Ethik studiert und ist Universitätsassistent am Institut für Katechetik und Religionspädagogik an der Universität Graz. Auf die Frage, warum er sich unter anderem auf Freikirchen spezialisiert hat, antwortet der Religionswissenschaftler, dass ihn die extreme Vielfalt an anderen Perspektiven, die damit einhergeht, fasziniere.
Glaube anders gelebt
Freikirche ist nicht gleich Freikirche. In Österreich gibt es verschiedene Verbände – einer der größten nennt sich „Freikirchen in Österreich (FKÖ)”. Dieser ist staatlich anerkannt und vereint unterschiedliche Glaubensströmungen innerhalb des freikirchlichen Spektrums, zum Beispiel Baptisten, Pfingstkirchen oder Mennoniten. Es gibt aber auch Gemeinschaften, die nicht vom Staat anerkannt sind und eigenständig operieren, so etwa die Siebenten-Tags-Adventisten.
Eine österreichische Besonderheit sieht Feichtinger darin, dass Freikirchen hierzulande sehr stark von rumänischen Migrant:innen geprägt und getragen werden, denn sie bringen oft eine freikirchliche Sozialisierung aus ihrem Heimatland mit. Die größte Freikirche in Österreich – die Pfingstkirche Gemeinde Gottes – ist daher auch eine rein rumänische. Und: Freikirchen wachsen. Genaue Zahlen gibt es für Österreich zwar nicht, aber der Theologe geht aktuell von circa 60.000 Mitgliedern aus, Tendenz steigend.
Doch wie sieht das freikirchliche Leben in der Praxis aus? An diesem Samstag sind in der Life Church im Grazer Bezirk Lend fast alle Stühle besetzt. Es ist eine bunte Gruppe aus Alt und Jung, die sich in dem geräumigen Gebetsraum eingefunden hat. Als Musik ertönt, wird kräftig mitgesungen und geklatscht. Doch es sind keine Orgelklänge, kein Chorgesang, sondern ein E-Gitarrist, der für die Besucher:innen moderne christliche Lieder performt. An der Wand ein großer Bildschirm, auf dem die Liedtexte angezeigt werden. Danach beginnt die Predigt. Der Pastor trägt Hemd und Jeans und liest von einem iPad Stellen aus der Bibel vor. Immer wieder gibt es Wortmeldungen aus dem Publikum. Generell wirkt alles viel lockerer als bei Gottesdiensten, die man aus Großkirchen kennt.

„Wir haben Leute aller Generationen bei uns in den Gottesdiensten und wollen sie deshalb für alle ansprechend gestalten. Dementsprechend gibt es auch nur wenige Regeln, was den Aufbau betrifft”, erzählt Helge Plonner.
Er ist Pastor in Graz und Leoben und zuständig für die theologische Community der Life Church Österreich. Zum Glauben hat er bereits in seiner Kindheit gefunden. Traumatisiert von den Erlebnissen in der Volksschule – die Schüler:innen wurden von den Lehrer:innen regelmäßig geschlagen und bloßgestellt – hat er das Bewusstsein entwickelt, nie gut genug zu sein. Das änderte sich, als er eine freikirchliche Predigt-Kassette geschenkt bekam und begann, freikirchliche Gottesdienste zu besuchen. „Von da an habe ich verstanden, dass ich unter Gottes Segen leben darf und er mich so annimmt, wie ich bin. Das hat sich auf mein Leben sehr positiv ausgewirkt”, schildert Plonner.
Jugend im Fokus
Dass viele junge Menschen Interesse an der Freikirche zeigen, nimmt auch der Pastor wahr. Die Life Church wolle aber auch bewusst die Jugend integrieren und ihr auf ihrem Glaubensweg zur Seite stehen. Das Vorbild hierbei sei Jesus Christus, der Kinder und Jugendliche immer sehr ernst genommen habe, erwähnt Plonner.
Feichtinger bestätigt, dass Freikirchen, besonders jene im pfingstkirchlichen Spektrum, durch ihren Eventcharakter und ihre zeitgemäße Kommunikation, es geschafft haben, junge Menschen anzusprechen. Etwas, worauf die katholische Kirche „schon ein bisserl neidig schielt”, wie es der Theologe ausdrückt. Auch, dass sie klare Orientierung und Normen bieten, seien Gründe für den Hype.

Der Experte betont aber auch, dass Pfingstkirchen trotz moderner Sprache bei moralischen Fragen eher konservativ sind. So sind viele Gemeinschaften etwa kritisch gegenüber modernen Geschlechterrollen und Homosexualität eingestellt, was zu Ausgrenzung führen kann. Wie die Life Church zu Genderthemen steht, wollte Plonner beim telefonisch geführten Interview nicht äußern.
Werden Freikirchen in der Zukunft relevant bleiben? „Ja”, meint der Pastor. Er ist davon überzeugt, dass die Menschen trotz des zunehmenden Atheismus nach Antworten auf die großen Fragen suchen und Sehnsucht nach Gott verspüren.
Und: „Ja”, meint auch der Theologe. In Österreich halten sich Freikirchen laut ihm zwar in einem recht überschaubaren Rahmen, auf globaler Ebene sei das jedoch anders. Feichtinger ordnet sie als immer relevantere Player ein, die in den letzten Jahrzehnten eine rasante Entwicklung durchgemacht haben und nun um die 700 Millionen Mitglieder zählen.
Mit der Bezeichnung Großkirche ist die katholische, die evangelische und die orthodoxe Kirche in Österreich gemeint.
Titelbild: E-Gitarre statt Orgel, so beginnt der Gottesdienst bei der Life Church – Foto: Magdalena Binder