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Wenn Geschichte auf der Straße sichtbar wird

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Seit einem Jahr tauchen immer mehr Zusatztafeln auf, die bei Straßenzügen den Hintergrund der Namensgeber*innen erklären. Was seither passiert ist und wie die neue Grazer Koalition zum Projekt und zu etwaigen Umbenennungen steht.

Von: Felix Neumann und Nora Reichhalter

Was machte Ferdinand Hanusch zum Pionier der österreichischen Sozialpolitik? Wer war die erste Doktorin der Technik in Österreich (Hedwig Katschinka)? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Hans Kloepfer und der NSDAP? Über all das geben seit nunmehr zwölf Monaten neue Infotafeln im Annenviertel Auskunft.

Schon oft wurden Straßen, Gassen oder Plätze, die nach umstrittenen Personen benannt sind, zum Thema der öffentlichen Debatte. Es handelt sich dabei unter anderem um Vorwürfe der Kriegstreiberei oder des Engagements im Nationalsozialismus, so etwa  im Falle der Kernstockgasse, Conrad-von-Hötzendorf-Straße oder Max-Mell-Allee. Deshalb entschied sich der Grazer Gemeinderat 2014 dazu, die Expert*innenkommission Straßennamen (EKSN) einzurichten, welche historisch belastete Straßennamen evaluierte. Diese kam im März 2018 zu dem Ergebnis, 82 Benennungen seien als problematisch, davon wiederum 20 als sehr problematisch einzustufen.

Die schwarz-blaue Koalition vereinbarte, keine Umbenennungen vorzunehmen und stattdessen ein mehrjähriges Projekt um 1,3 Mio. € zu starten. Dabei sollen nicht bloß bei den umstrittenen, sondern bei allen über 700 Verkehrsflächen, die nach historischen Persönlichkeiten benannt sind, passende Erklärtafeln mit Kurzbiographien installiert werden. Am 1. Februar 2021 wurde im Liebenauer Maria-Cäsar-Park die erste Zusatztafel montiert, das Projekt soll 2028 abgeschlossen sein.

Schilder – Der Status Quo

Uns liegt eine Liste des Stadtvermessungsamts vor, aus der hervorgeht, dass bis Ende Jänner bereits 104 Straßen mit Hinweistafeln versehen wurden. Ein umfassender Lokalaugenschein im gesamten Grazer Stadtgebiet ergab aber, dass zu diesem Zeitpunkt etwa 20 der angeblich aufgehängten Schilder noch fehlten. Auf unsere Nachfrage beim Stadtvermessungsamt wurden mittlerweile einige davon nachgereicht, wie beispielsweise in der Dr.-Hans-Kloepfer-Straße. Während der vergangenen Wochen haben in rund 75 Straßen weitere Schilder der jüngsten Charge ihren Platz im Stadtraum eingenommen.

Die Zusatztafeln der Dr.-Hans-Kloepfer-Straße wurden vor drei Wochen nachgereicht. – Foto: Felix Neumann

Das Prozedere erfolgt in alphabetischer Reihenfolge, teilweise wurden Straßennamen übersprungen oder problematische vorgezogen. Bisher wurden Straßennamen bis zum Buchstaben C aufgehängt, die neueste Lieferung beinhaltet nun sprunghaft Namen von F-H.

Insgesamt zählte und dokumentierte die Annenpost in allen Bezirken bis dato 166 Straßenzüge mit neuen Hinweistafeln, somit wurde das ursprüngliche Jahresziel von 90 deutlich überschritten. Bereits im März erwartet Peter Bernd, Leiter der Straßenerhaltung Nord, die nächste Lieferung.

In Lend, Gries und Eggenberg sind mindestens 35 verschiedene Infoschilder zu finden, vier davon zählen laut EKSN zu den problematischen Namen – Dr.-Hans-Spitzy-Platzl, Dr.-Hans-Kloepfer-Straße, Franz-Steiner-Gasse und Hermann-Löns-Gasse.

Die Karte veranschaulicht, wo bereits Infoschilder in der Stadt verteilt wurden. – Grafik: Felix Neumann

Vom Geschichtsbuch in die Öffentlichkeit

Die sechszeiligen Texte für die Hinweisschilder erstellt die Universität Graz zusammen mit dem Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung, wie uns dessen Leiterin Barbara Stelzl-Marx schildert. Anschließend überprüft die 13-köpfige EKSN die Texte, gibt sie frei und sendet sie ans Stadtvermessungsamt. Dort ist Elke Achleitner zuständig, sie sagt: “Die Abwicklung der Bestellung der Tafeln und die Aufstellung erfolgt durch die Holding.” Produziert werden die Emaille-Schilder bei der Firma Riess im niederösterreichischen Ybbsitz, wo auch Geschirr hergestellt wird.

Neue Regierung – neue Namen?

Nach dem Machtwechsel infolge der Gemeinderatswahl stellt sich nun die Frage, wie die neue Koalition aus KPÖ, Grünen und SPÖ zu diesem Projekt steht. Auch, ob es nun zu etwaigen Umbenennungen kommt – schließlich hatten sich die Parteien in der Vergangenheit dafür ausgesprochen, vor allem bei der Kernstockgasse, für die es auch noch keine Zusatztafel gibt. Hier hatte ein KPÖ-Gemeinderat  alternativ Kolleritschgasse vorgeschlagen, die Grazer Kunstszene hingegen Kurt-Cobain-Gasse. Auch im Regierungsprogramm findet sich der Punkt “Evaluierung der Zusatztafeln für Straßennamen, Prüfung möglicher Umbenennung von sehr belasteten Straßennamen sowie Information der Bevölkerung”.

Aus dem Büro von Bürgermeisterin Elke Kahr (KPÖ) heißt es, man halte grundsätzlich am Zusatztafel-Projekt fest und wolle innerhalb der Koalition über Umbenennungen diskutieren, wobei ein solches Vorhaben aber unter anderem für die Anrainer*innen einen großen Aufwand darstelle. Bei Neubenennungen wolle man grundsätzlich wichtige Frauen aus der Geschichte vorziehen. In den ersten drei Monaten sei die Stadtregierung noch nicht dazu gekommen, das Thema der Umbenennung zu behandeln, es sei aber laut Pressesprecher Georg Fuchs ein Anliegen der Koalition und man behalte es “im Hinterkopf”.

Vonseiten der Vizebürgermeisterin und zuständigen Ressortleiterin der Stadtbaudirektion, Judith Schwentner, hört man Ähnliches. Die Grünen stünden Umbenennungen “grundsätzlich positiv gegenüber”. “Gerade dort, wo es sogar den Wunsch der Bewohner*innen gibt”, könne man sich neue Namen sehr gut vorstellen, erläutert Büroleiterin Nicole Kuss. Das Projekt der Hinweisschilder sei dann sinnvoll, wenn es “im Rahmen eines Bildungsauftrages durch breite Information, Workshops und in Schulen begleitet wird”. Wie das konkret aussehen könnte, ist bis dato nicht bekannt.

Eine Frage der Perspektive

Die Aufgabe der Schilder ist es, Passant*innen über die jeweiligen Straßennamen aufzuklären. Bei genauerer Analyse der bisher montierten Tafeln fällt auf, dass dies zwar in den meisten Fällen zutrifft, sie aber dennoch nicht immer gut zu lesen sind. So gibt es Zusatzschilder, die sehr hoch (Gabelsbergerstraße oder Grimmgasse), von anderen Verkehrsschildern verdeckt (Hanns-Koren-Ring in Straßgang) oder zusammenhanglos ohne dazugehöriges Hauptschild (Hans-List-Platz oder Dr.-Muck-Anlage vor der Oper) befestigt wurden. So kann ihre Bedeutung für Laien schwer nachvollziehbar sein. Außerdem fällt bei der jüngsten Lieferung auf, dass oft auch bei längeren Straßen nur noch eines statt zwei Schildern montiert wird.

Das frisch montierte Schild in der Gabelsbergerstraße in Lend wurde sehr hoch und unmittelbar vor der Fahrbahn befestigt – Foto: Felix Neumann

Titelbild: Auch die berühmte Annenstraße wurde bereits mit drei Infotafeln geschmückt – Foto: Felix Neumann

Und für Interessierte gibt es hier noch ein Potpourri von Hinweisschildern im Annenviertel – für genauere Informationen auf das Bild klicken!

Aus einem kleinen Dorf in Südtirol und nun im Grazer Annenviertel. Sehr neugierig, enthusiastisch und immer offen für eine neue Geschichte.

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