2 Frauen sitzen an einem Tisch und halten vor Studierenden einen Vortrag.
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Was tun gegen den Generalverdacht?

in KULTUR von

Der Terroranschlag in Wien und die österreichweiten Razzien im vermuteten Umfeld der Muslimbrüder liegen nun über einen Monat zurück. Seitdem steht die muslimische Community in Österreich vermehrt im Blickpunkt. Wie nehmen Muslim*innen diese Situation selbst wahr?

„Im Jahr 2020 ist vieles passiert, das uns allen das Leben erschwert”, sagt die islamische Religionspädagogin Mevlida Mešanović, die an der Grazer Universität forscht und lehrt. Die COVID-19-Krise betreffe die ganze Bevölkerung und Familienmitglieder dürfen sich teilweise nicht sehen. Doch für die muslimische Community seien die letzten beiden Monate besonders herausfordernd gewesen: die Anschläge in Frankreich und Wien, das Anti-Terror-Paket der Regierung, sowie die Razzien und Hausdurchsuchungen im Umfeld der Muslimbrüder in ganz Österreich, unter anderem auch im Annenviertel.

„Wir fühlen eine starke Betroffenheit aufgrund des Terroranschlages”, sagt auch Andin Berisha von der Muslimischen Jugend Österreich (MJÖ) in Graz, der als zweite Generation in Österreich lebt. Viele muslimische Jugendliche hätten keine Möglichkeit, die Geschehnisse zu verarbeiten. Sie müssten sich gleich mit den Konsequenzen auseinandersetzen, sich ständig rechtfertigen, Stellung beziehen und sich öffentlich von den Taten distanzieren. „Muslim*innen wollen sich sehr wohl zu der Thematik äußern“, meint Mevlida Mešanović, aber irgendwann sei man es auch leid. Zusätzlich betont Berisha, dass „somit ein Generalverdacht gegenüber Muslim*innen und muslimischen Jugendlichen entsteht”. Generalisierungen müssen vermieden werden, sagt Mešanović. 2018 startete die islamische Religionspädagogin gemeinsam mit Wolfgang Weirer an der Uni Graz den Hochschullehrgang „Islamische Religionspädagogik im österreichischen Kontext“. Dessen erste Absolvent*innen wurden Mitte November 2020 verabschiedet.

Ihrer Meinung nach stellen Verallgemeinerungen die muslimische Community automatisch auf eine Ebene mit dem Terror. Das bleibe in den Köpfen der Menschen. Laut dem 20-jährigen Berisha haben Solidaritätsbekundungen von Entscheidungsträger*innen da geholfen und seien ein Schritt in die richtige Richtung. Unter anderem von SPÖ-Bundesparteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner, dem Wiener Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr (Neos) und dem Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments Othmar Karas (ÖVP).

Der 20-jährige Andin Berisha sitzt in einem Publikum und schaut dem Vortrag zu.
Andin Berisha studiert Umweltwissenschaften – Naturwissenschaften-Technologien – Foto: Christoph Hütter Photography

Maßnahmen gegen Gesellschaftsspaltung

„Eine Gesellschaftsspaltung ist das Ziel von Terroristen. Jetzt ist es umso wichtiger zusammenzuhalten“, sagt Berisha, der sich mit der Aktion Religion for Future auch gegen den Klimawandel einsetzt. Nach dem Anschlag in Wien beteiligte sich die MJÖ gemeinsam mit anderen Organisationen wie der European Union of Jewish Students und der ÖH Uni Wien an einer Gedenkkundgebung am Morzinplatz gegen Hass und Hetze. Auch an der Mahnwache nach den Attacken auf die Grazer Synagoge im August nahmen Mitglieder der MJÖ teil. Der Verein sehe sich hier als Brückenbauer zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der muslimischen Community. Er leistet Präventionsarbeit mithilfe von verschiedenen Projekten, wie Fasten-teilen-helfen im Monat Ramadan und EmpowHER, das die Frauenpolitik für Musliminnen und alle Frauen in Österreich verbessern will. Außerdem bietet die MJÖ Workshops für den schulischen Bereich und Jugendgruppen an, die die Integration fördern und das Verständnis für unterschiedliche Kulturen verbessern sollen.

Einen Austausch zwischen Muslim*innen & Nicht-Muslim*innen unterstützt auch Mešanović, die vor mehr als 20 Jahren wegen des Jugoslawien-Krieges nach Österreich floh. Man solle sich auf neutralem Boden treffen, miteinander reden und sich so besser kennen- und verstehen lernen. Doch neben den Dialogen in Schulklassen und Jugendgruppen, müsse man auch Gespräche am Arbeitsplatz oder in Freizeiteinrichtungen mit Workshops fördern.

Außerdem würde sich die Universitätslehrende wünschen, dass sich die muslimische Community gegenüber der Gesellschaft mehr öffnet. Beispielsweise mit besser beworbenen Aktionen am Tag der offenen Moschee. Sie appelliert aber auch an die Musliminnen, die kein Kopftuch tragen. Diese Frauen – 93 Prozent aller Musliminnen in Österreich – sollen sich mehr in das Miteinander einbringen, damit diese auch wahrgenommen werden und das Kopftuch nicht mehr das Zeichen der Unterdrückung im Islam sei. Somit könne ein weiterer Schritt in Richtung Akzeptanz und Pluralität gesetzt werden.

Frau Mesanovic steht neben einem Bar-Tisch und schaut in das Publikum.
Mevlida Mešanović reist für ihren Beruf oft herum – Foto: Mevlida Mešanović

Vorbild Annenviertel

Um dieses Ziel zu erreichen, könne laut Mešanović auch die österreichische Wirtschaft ihren Teil beitragen. Denn es werde teilweise die Wirtschaftskraft der muslimischen Community vergessen. Beispielsweise gebe es in den österreichischen Supermärkten oft nicht die richtigen Lebensmittel für die traditionelle Küche von Muslim*innen. Daher bestelle man die fehlenden Produkte online und das Geld gehe ins Ausland. Auch islamische Bekleidung müsse man häufig im Internet kaufen. Mešanović dazu: „Ich würde lieber 150 Euro für einen Burkini in Österreich als in den Niederlanden ausgeben.“ Das Annenviertel ist hier ein positiver Vorreiter. Denn zwischen der Mur und dem Hauptbahnhof lässt sich (fast) alles finden.

Auch Andin Berisha, der im Annenviertel aufgewachsen ist und wohnt, lobt die Diversität des Stadtteils. Der Zusammenhalt zwischen den unterschiedlichen Religionen und Nationalitäten des Viertels sei gut zu beobachten. 2020 ausgenommen, würden Festtage gemeinsam gefeiert und verschiedene Traditionen miteinander geteilt werden. Beispielsweise verschenke seine Familie zu gewissen islamischen Festtagen Gebäck und sie bekommen zu Weihnachten Kekse geschenkt. Außerdem unterstütze man sich gegenseitig in schwierigen Zeiten.

Diskriminierung & Pädagogik

Nach dem Terroranschlag vom 2. November hat sich die Stimmung gegenüber Muslim*innen deutlich verschlechtert. Die Antidiskriminierungsstelle Steiermark, der Antirassismusverein ZARA, sowie die Dokumentationsstelle für Islamfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus verzeichneten massiv steigende Zahlen. Sprüche wie: „Muslime gehören vergast!“ oder „Du gehörst wieder zurück!“ seien laut Mešanović kein Einzelfall. Daher sei eine gewisse Angst in der muslimischen Community da und sie sei berechtigt, meint Berisha, der selbst schon öfters verbale Diskriminierung erlebt hat.

Diskriminierung habe es auch schon vor den aktuellen Ereignissen gegeben, darin stimmen Berisha und Mešanović überein. Die Co-Autorin der Schulbuch-Reihe „Islamstunde” für den islamischen Religionsunterricht an Schulen sagt, dass sie früher aufgrund ihrer Herkunft bei Jobbewerbungen abgewiesen worden sei.

In den Schulen seien, laut Mešanović, Lehrer*innen manchmal nicht sensibel genug gegenüber anderen Religionen und Kulturen. Muslimische Schüler*innen würden oft mit Islam-Expert*innen verwechselt und müssten dann, wie das unlängst in Kärnten passiert sei, ein Referat über islamistischen Terrorismus halten. Daher sei interkulturelles und interreligiöses Lernen für alle Lehrer*innen so wichtig. Sie sollten über ein Basiswissen der verschiedenen Kulturen und Konfessionen verfügen und „das Thema sensibel behandeln.“

„Wir können über Nacht nicht alles ändern”, meint Mešanović. „Wir können aber darauf schauen, das Beste aus der Situation bzw. für die Zukunft zu machen.“

 

Titelbild: Zwei Vortragende der MJÖ – Foto: Muslimische Jugend Österreich

Neugierige Grazerin mit einer Vorliebe für Natur, Musicals und Motorräder. In diesem Sinne: Hakuna Matata.

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