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Schmäh und Schmerz: Der Piercer in der Geisterpassage

in VIERTEL(ER)LEBEN von

Seit Jahren dämmert die Annenpassage am Hauptbahnhof vor sich hin. Ausgerechnet hier betreibt Franz Knapp seit 25 Jahren sein „Exclusiv“ Piercing- und Tattoostudio. Und seit Corona läuft das Geschäft sogar noch besser.

Von: Helene Purt, Laura Rattensberger, Melanie Schönwetter

Beim Flanieren durch die Annenpassage leuchtet mir eine bunte Auslage entgegen: auffällige Stecker, grelle Plugs und ausgefallene Dehnungsstäbe vor neonfarbenen Wänden. Gleich neben dem Eingang  verzeichnet ein gelbes Schild die Öffnungszeiten: “Montag – Freitag 08:59 – 18:02″. Automatisch bleibe ich vor dem Piercing- und Tattoostudio stehen. Ein Zwitschern ertönt, ausgelöst durch einen Bewegungsmelder am Eingang. Innerhalb weniger Sekunden kommt mir Franz Knapp, der Mann, dem das Studio gehört, entgegen. Ich mache ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen kann: Er beantwortet meine Fragen, ich lasse mir währenddessen ein Piercing stechen.

Ein Deal

Nachdem wir die üblichen Hygienemaßnahmen hinter uns gebracht haben – ich muss sogar Fieber messen (37,1 Grad) –, darf ich das Studio betreten. Dort sprüht mich Franz Knapp noch von oben bis unten mit Desinfektionsmittel ein. Franz Knapp bringt mich in den angrenzenden Piercingraum. Dort muss ich mich auf den in Plastik gehüllten Stuhl setzen und erkläre, wo ich das Piercing haben möchte. Während Knapp seine Handschuhe anzieht und Nadel und Piercing aus einer Schublade holt, erzählt er mir von seinen Anfängen. Er bezog das Studio in der Annenpassage vor 25 Jahren, damals soll das ein sehr begehrter Spot gewesen sein. Ich war damals noch gar nicht auf der Welt. Das Handwerk dazu brachte sich der Piercer durch das Studieren von Medizinbüchern selbst bei.

Ursprünglich hatte Knapp ganz andere berufliche Pläne. Nach der Handelsschule besuchte er die HTL für Elektrotechnik in Graz und entdeckte so sein Interesse für das Piercen. „Wir haben aufgrund der Ausbildung Kugerl und Stecker für andere Studios gemacht. Und dann hab i mir gedacht, des kann i selber besser!“, sagt er und setzt seine Nadel an meinem Ohr an. „Bist bereit?“, höre ich ihn noch fragen, bevor ich meine Hände zu Fäusten balle und mich mental auf Schmerzen vorbereite.

Schmäh machen, lustig sein

Der Stich ist zum Glück schmerzfreier als gedacht. Beim Schließen des Ringes erzählt er weiter.  Nachdem sich Knapp damals das Piercen selbst beigebracht hatte, besorgte er sich einen Gewerbeschein und eröffnete gemeinsam mit seiner Frau das „Exclusiv“ Studio. „Damals bist hingegangen – Gewerbeschein – passt.“ Mit seinen MitarbeiterInnen, die seit Beginn Teil des Teams sind und die Franz Knapp selbst ausgebildet hat, baute er sich nach und nach eine solide Stammkundschaft auf, wie er sagt.

Franz Knapp verlässt sich hauptsächlich auf Mundpropaganda und ist sich sicher: „Einfach a bissi an Schmäh machen, lustig sein“, das ziehe die KundInnen an und führe dazu, dass sie wieder kommen. Sein Humor spiegelt sich auch in den ungewöhnlichen Öffnungszeiten wider. „Das ist eigentlich ein Werbegag.“

Die originellen Öffnungszeiten – Foto: Helene Purt

 

Enkelfites Studio

Der Niedergang der 1986 eröffneten Annenpassage, der sich durch den Auszug der Elektronikkette Saturn im Jahr 2008 und die Verlegung der Straßenbahnhaltestelle im Jahr 2010 immer weiter beschleunigte, ging an dem Studio fast spurlos vorüber. Die Laufkundschaft blieb zwar zusehends aus, aber zu diesem Zeitpunkt hatte sich Franz Knapp bereits einen großen Kundenstamm aufgebaut, teilweise pierct er inzwischen die Enkel seiner ersten Kunden. Selbst in der Corona-Krise verbuchte der Piercer keine Verluste. Im Gegenteil, die Anzahl der BesucherInnen stieg sogar. Das erklärt sich Knapp so: „Die Leute haben mehr Zeit gehabt und sich nicht im Urlaub, sondern hier bei uns piercen lassen.“

Creme und Zuckerl

Franz Knapp cremt die Wunde mit einer Heil- und Desinfektionssalbe ein und gibt mir noch ein Traubenzuckerl für den Kreislauf. Danach begleite ich ihn zur Kassa und zahle. Über die Zukunft und Veränderung der Annenpassage macht er sich keine Gedanken. „Was in der Zukunft liegt, kann i eh ned entscheiden”, sagt er. Wenn man an die lange Geschichte von Ankündigungen denkt, mit denen die jeweiligen Eigentümer Hoffnung auf eine Wiederbelebung machten – durch die Wiener Städtische im Jahr 2013 oder zuletzt die List Group 2019 –, kann man Franz Knapp gut verstehen. “I kann mi nur auf des konzentrieren, was jetzt is. Anders wirst es ned schaffen im Leben.“

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