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„Eine Kultur wie jede andere, mit Ecken und Kanten“

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Im Oktober des letzten Jahres kam es in Deutschland zu einem versuchten Attentat auf eine Synagoge. Welche Sicherheitsmaßnahmen die Grazer Synagoge eingeführt hat, wie stark der Antisemitismus hierzulande ist und warum die Jüdische Gemeinde Filmabende organisiert, das erklärt deren Vorsitzender Elie Rosen.

Von: Sidonie Sagmeister, Lena Wieser

Elie Rosen steht vor der großen Leinwand, die im Veranstaltungsraum der Synagoge in Graz aufgebaut ist. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Graz begrüßt das Publikum und wünscht viel Spaß bei der bevorstehenden Filmvorführung, am Programm steht “Der Sohn der Anderen”, ein Film über zwei junge Männer, ein Jude und ein Palästinenser, die feststellen, dass sie bei der Geburt vertauscht wurden.

Wie antisemitisch ist Österreich?

Die Jüdische Gemeinde in Graz besteht aus 150 Juden und Jüdinnen aus aller Welt, vereint durch ihre Kultur und Religion. Doch wie lebt es sich für sie in einem Land, das von der Shoah tief geprägt ist? In einem Land, in dem laut einer Antisemitismus-Studie im Auftrag der Parlamentsdirektion im Jahr 2018 39 Prozent der Befragten der Aussage „Die Juden beherrschen die internationale Geschäftswelt“ zustimmten? 36 Prozent stimmten auch der Aussage zu: „Juden versuchen heute Vorteile daraus zu ziehen, dass sie während der Nazi-Zeit Opfer gewesen sind“. 

Filmabende in der Synagoge

In regelmäßigen Abständen kann man in der Synagoge Graz Filme sehen. Die Filmvorstellungen seien vorwiegend an ein nichtjüdisches Publikum gerichtet, sagt Rosen. Um am Filmabend teilnehmen zu dürfen, muss man sich anmelden, seine Personalien angeben und auf eine Einladung warten. Am Eingang zur Synagoge wird man kontrolliert und abgetastet. Die ganze Prozedur wirkt befremdlich, verwunderlich sind diese Maßnahmen aber nicht: Erst im Oktober des Vorjahres hatte ein Attentäter im deutschen Halle (Saale) versucht hatte, in eine Synagoge einzudringen, und danach in der Nähe des Gebäudes zwei Menschen erschossen.

Im Büro von Elie Rosen

Elie Rosens Begrüßung fällt herzlich aus. Der 48-jährige Jurist und Betriebswirt ist eine zentrale Person der Jüdischen Community in ganz Österreich. Nach einem festen Händedruck beginnt er zu erzählen.

Elie Rosen ist der Präsident der Jüdischen Gemeinde Graz. – Foto: Lena Wieser

Wo Antisemitismus entsteht

Elie Rosen sieht sich mit drei Arten des Antisemitismus zunehmend konfrontiert. Zuerst sei da der traditionell rechte Antisemitismus und geringfügig auch ein religiöser. Außerdem gebe es einen stark präsenten islamisch geprägten Antisemitismus sowie einen, der von der politischen Linken ausgehe. Die Stadt Graz, sagt Elie Rosen, setze durchaus Maßnahmen. So habe sie etwa eine Erklärung gegen Antisemitismus und BDS abgegeben, die Rosen als großen Erfolg betrachtet.

Im europäischen Vergleich steht Österreich laut Elie Rosen relativ gut da. “Man sollte zwar nicht in Jubel ausbrechen, aber wenn man es vergleicht, leben wir fast noch auf einer Insel der Seligen.” In Graz habe man, so Rosen, zumindest noch keine Vorfälle mit physischer Gewalt gehabt.

Wie man am besten gegen Antisemitismus vorgehe? “ Ich glaube nicht, dass man eingefleischte AntisemitInnen durch Nettigkeit und Überzeugungsarbeit umstimmen kann. Das habe ich gelernt: Jemand, der auf solche Vorurteile aufspringt, den werden Sie auch nicht mit vernünftigen Kriterien da wegkriegen.” Der Lösungsweg gehe vielmehr über eine Vermittlung eines positiven Judentums. Oft wird das Judentum über die Geschichte der Shoah aufbereitet. Wer sich allerdings nur mit Schrecken und Leid auseinandersetzt, der schaffe wenig Bereitschaft, offen auf das Judentum zuzugehen, sagt Rosen.

 

Im Eingangsbereich der Synagoge kann man Zitate vom Grazer Rabbiner Dr. Samuel Mühsam lesen. – Foto: Lena Wieser

Jüdischer Alltag in Graz

Die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in der Steiermark sind laut Rosen eher traditionell. Wer ultraorthodox lebt, den ziehe es per se schon nicht nach Graz. „So religiös, dass jemand die ganze Zeit mit Kippa gehen würde, ist eigentlich niemand in der Gemeinde.“ Ähnlich sei es mit den Essensvorschriften. In Graz gibt es keinen koscheren Supermarkt, dafür gibt es schlicht und einfach zu wenige Juden/Jüdinnen. Wer sich trotzdem an die Kaschrut halten will, also die jüdischen Speisegesetze, der bezieht seine Nahrungsmittel extra aus Wien und hält sich an die koscheren Lebensmittel, die normale Supermärkte anbieten.

Auf die Frage, welches Bild die Jüdische Gemeinde vermitteln will, sagt Rosen: ein lebendiges Judentum. Nicht die Schoah soll im Vordergrund stehen, sondern die verschiedenen Aspekte des Judentums. „Es geht darum zu sehen, dass das eine Kultur wie jede andere ist, mit Ecken und Kanten.“

Infobox

Die jüdische Gemeinde Graz veranstaltet regelmäßig Filmabende, die einen Einblick in das jüdische Leben geben.

Kleines Wörterbuch zu den jüdischen Begriffen im Artikel:

Menora: Siebenarmiger Leuchter

Ultraorthodoxes Judentum: Strömung des Judentums

Kaschrut: Jüdische Speisegesetze, schreiben vor,welches Essen “koscher” ist, also wie man es zubereiten und genießen sollte

Tora: Religiöse Schrift

Schoah: auch Holocaust, Massenvernichtung der Juden in Deutschland und Europa

Kippa: Kopfbedeckung, die aus religiösen Gründen getragen wird

BDS: „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen” – eine 2005 gegründete, transnationale Kampagne, die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und wissenschaftlich isolieren soll

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