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Zwischen Mozart und Mistkübeln

in KULTUR von
Eva Itzlinger ist 53 Jahre alt, Leiterin des Grazer Seniorenorchesters, Künstlerin und Mülltaucherin. Porträt eines Lebens, das sich im Konzertsaal ebenso entfaltet wie zwischen den Mülltonnen der Supermarktketten.
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„Ich habe Fantasie und kann dem Leben viel Gaudi abgewinnen.“ Foto: Lisa Stöllinger

Das Licht ist bereits gedimmt, die Begrüßungsreden durch Mitglieder des steirischen Seniorenbundes abgeschlossen, das Murmeln des Publikums verebbt.
Es ist der dritte Adventsonntag, Tag des Adventkonzerts des Grazer Seniorenorchesters im barocken Minoritensaal in Lend. Auf der  Bühne haben die Mitglieder des Symphonieorchesters  bereits ihre Plätze eingenommen. Die vorderen Reihen der im Halbkreis angeordneten Sessel belegen die Streicher, dahinter – Schulter an Schulter – die Holz- und Blechbläser.
Im Zentrum des Geschehens steht die Dirigentin, Eva Itzlinger. Ein Handzeichen von ihr und das Kollektiv der MusikerInnen lässt die ersten Takte von Schuberts „Ouverture im italienischen Stil“ erklingen.

„Je älter desto Star!“
Seit beinahe zwei Jahren leitet die Dirigentin nun die 35 MusikerInnen. Eva Itzlinger bedauert, dass mit der Bezeichnung „Seniorenorchester“ oft Assoziationen wie „altbacken“ oder „fad“ einhergehen. Attribute wie „niedlich“ oder „lieb“, die man ebenso hört, fasst sie als Beleidigung auf. „Die Gesellschaft besteht nicht nur aus dem kleinen Streifen der Erwerbstätigen. Alte Menschen werden häufig als Randgruppe wahrgenommen. Das Orchester ist nicht lieb, sondern ehrwürdig.“ Die Stars der Musikgruppe sind vor allem die, die auf den 90er zugehen. „Jemand, der trotz Gehstock und Herzschrittmacher Geige spielt, ist eindeutig hipp“, stellt die Leiterin klar. 

„Jemand, der trotz Gehstock und Herzschrittmacher Geige spielt, ist eindeutig hipp.“

Das Faible für klassische Musik wurde Eva Itzlinger nicht in die Wiege gelegt. 1963 in Graz geboren und aufgewachsen in Steyr, absolvierte sie erst eine HTL und danach eine Ausbildung zur Goldschmiedin, bevor sie im Alter von 17 Jahren das Cello für sich entdeckte. Deshalb zog die angehende Musikerin nach Wien, wo sie ein Studium am Konservatorium Wien mit dem Hauptfach Violoncello begann. Die Aufnahme beim Orchester in Karlsbad, ein Engagement beim Symphonieorchester von Königgrätz und eine Dirigentenausbildung in Prag und am Bruckner Konservatorium in Linz folgten. Zu Beginn ihrer Dirigentenkarriere leitete sie zahlreiche Chöre, sehnte sich jedoch immer nach der Leitung eines Orchesters. Im Jahr 2012 zog es sie zurück nach Graz – und sie hatte Glück. Das Grazer Seniorenorchester befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer schwierigen Dirigentensituation und kontaktierte sie via Facebook: „Ich wurde von den Oldies sozusagen aus dem Netz gefischt“, sagt Itzlinger.

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Eva Itzlinger in ihrer Funktion als Leiterin des Seniorenorchesters am dritten Adventsonntag. Foto: Lisa Stöllinger

Ästhetischer Müll
Dass in Eva Itzlingers Leben Kreativität eine zentrale Rolle spielt, zeigt sich nicht nur in ihrer Musikaffinität, sondern auch in ihrem Engagement in der Kunstszene. Ihr Arbeitsmaterial ist Abfall: meist Kronenkorken oder Flaschenstöpsel, die sie in Grazer Parkanlagen sammelt oder sich von kooperierenden Gastronomen holt. In ihrem letzten Kunstwerk verarbeitete sie Kronenkorken zu dem 2 mal 5 Meter großen Kunstwerk „Ordnung der Überreste“, das im Schaumbad, einem selbstorganisierten Atelierhaus in Graz, vergangenen September ausgestellt wurde. Der Müll wird für Eva Itzlinger erst brauchbar, wenn er sortenrein ist: „In dem Moment, wo der Müll sortiert ist, entwickelt er eine eigene Ästhetik.“

„In dem Moment, wo der Müll sortiert ist, entwickelt er eine eigene Ästhetik.“

Was man im Abfall noch so findet, erklärt Eva Itzlinger im weiteren Verlauf des Gesprächs:
„Dumpstern ist mittlerweile ein persönliches Langzeitprojekt. Seit drei Jahren gebe ich kein Geld für Lebensmittel aus.“
Dumpsterer, auch Dumpster Diver, MülltaucherInnen oder ContainerInnen genannt, durchsuchen die Mülltonnen der Lebensmittelgeschäfte und nehmen daraus abgelaufene, aber genießbare Lebensmittel mit. Eva Itzlinger verfolgt diese nächtliche Aktivität nicht aus Spargründen, sondern drückt darin ihren Boykott der Wegwerfgesellschaft und eine Art Protest gegen Lebensmittelverschwendung aus. „Vor Ladenschluss wird die Ware noch verkauft und im nächsten Moment als Müll deklariert. Ich will mit niemandem handeln, der derart respektlos mit Lebensmitteln umgeht.“

Ihre Dumpster-Hotspots liegen in Lend und Gösting. Für eine Tour benötigt sie lediglich einen alten Rucksack und Stofftaschen – auf Handschuhe und Taschenlampe verzichtet sie. Bei manchen Tonnen geht sie leer aus, bei anderen findet sie Lebensmittel im Überfluss: Obst, Gemüse, Brot, Mehlspeisen. Zu viel Gefundenes friert sie ein oder tauscht es mit Leuten von Dumpster-Gruppen wie „Dumpstern Graz“, „Foodsharing Graz“ oder „Share & Care Lebensmittel Graz“.

„Dumpstern ist mittlerweile ein persönliches Langzeitprojekt. Seit drei Jahren gebe ich kein Geld für Lebensmittel aus.“

Dumpstern ist in Österreich Diebstahl. Wer sich noch dazu illegalen Zutritt zu abgeschlossenen Müllhallen verschafft, begeht sogar Einbruchdiebstahl. Angst, erwischt zu werden, hat Eva Itzlinger, die schon einmal von der Polizei aufgegriffen wurde, trotzdem nicht. Das Aufsammeln von Lebensmitteln aus dem Müll erachtet sie als Lappalie. „Die Container in Graz stehen meistens frei, sind nicht weggesperrt. Somit verschaffe ich mir keinen illegalen Zutritt. Dumpstern wird vor dem Gesetz zu einer Ermessensfrage.“ Monatlich spart sich die Dirigentin dadurch 100 bis 120 Euro.

[box]Mehr Informationen zum Grazer Seniorenorchester findet man auf der Homepage des steirischen Seniorenbunds, ihr Kunstwerk „Ordnung der Überreste“ der Ausstellung „100 Jahre Weltübergang“ kann man auf der offiziellen Homepage von Schaumbad besichtigen.[/box]

 

Lisa ist Teilzeit-Yogini, häufig in Konzerthallen anzutreffen, jeden Tag Morgenmuffel und immer Coffeeholic. Wäre gerne auf der ganzen Welt zuhause.

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