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Grenzüberschreitungen

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Sexuelle Belästigung und Übergriffe auf Frauen gehören auch in Graz zum traurigen Alltag. Wie PsychologInnen und PolizistInnen Betroffenen helfen.
Am Grazer Hauptplatz machte sich nach den Vorfällen in Köln eine kleine Gruppe von Menschen für Frauenrechte stark
Am Grazer Hauptplatz machte sich nach den Vorfällen in Köln eine kleine Gruppe von Menschen für Frauenrechte stark

Daniela Hinterreiter, Psychologin beim Frauenservice Graz hat zu jeder Tages- und Nachtzeit ein offenes Ohr für Frauen, die belästigt oder bedrängt wurden. Mehr als siebzig Prozent aller Frauen in Österreich mussten sich bereits mit einer solchen Situation auseinandersetzen, wie aus einer Statistik des Innenministeriums aus dem Jahr 2014 hervorgeht. Manchmal führt es die zumeist jungen Frauen direkt in Hinterreiters Büro am Lendplatz, häufig bekommt die Psychologin jedoch auch mitten in der Nacht E-Mails. Von Hilfesuchenden aus den Bezirken Lend und Gries, die nicht wissen, wie sie auf Belästigungen und Übergriffe reagieren sollen.

Dabei ist die Gesetzeslage bei sexuellen Übergriffen klar. „Es sind immer Straftaten und es geht immer um die Überschreitung einer Grenze“, sagt Daniela Hinterreiter. Kavaliersdelikte gibt es in diesem Bereich keine, dennoch existieren natürlich Abstufungen. Eine Vergewaltigung hat andere Konsequenzen als ein Griff an den Po oder ein dummer Spruch. Doch auch in diesen Fällen dürfe sich keine „Alltäglichkeit“ einstellen, betont Hinterreiter. Die Täter sind zumeist den Frauen unbekannte, männliche Personen. Die Belästigungen und anmaßende Bemerkungen belasteten die Psyche der Opfer und müssten ernstgenommen werden.

Bei Psychologin Daniela Hinterreiter vom Frauenservice am Lendplatz finden Betroffene sexueller Übergriffe Gehör
Bei Psychologin Daniela Hinterreiter vom Frauenservice am Lendplatz finden Betroffene sexueller Übergriffe Gehör

Im Frauenservice gibt es neben der psychologischen Beratung durch Daniela Hinterreiter auch eine Juristin, die Fragen rund um eine mögliche Anzeige beantworten kann. An ihrem Arbeitsplatz am Lendplatz geht es in den meisten Fällen um Belästigung in Form von „Anfassen“ oder unangebrachten Sprüche. Mehr als dreißig Prozent der Betroffenen sexueller Belästigung in Österreich schätzen die Situation als bedrohlich ein. Die Psychologin des Frauenservice spricht über ihren Haupttätigkeitsbereich Lend und Gries als sehr „heterogenes Viertel“, in dem jungen Mädchen allzu häufig Beschimpfungen hinterhergerufen werden – „Hure“ oder „Schlampe“. Was an manchen Frauen ungehört abperlt, beschäftigt andere stärker und nachhaltiger, als viele es zugeben möchten.

Nicht nur im Frauenservice, sondern auch im Polizeirevier, wenige hundert Meter entfernt, sind diese Fälle täglich Thema. Auf der Dienststelle am Lendplatz werden die Anzeigen von betroffenen Frauen aufgenommen. Um unsittliche Berührungen und andere sogenannte „Bagatelldelikten“, was ohne jede Wertung zu sehen sei, kümmern sich die uniformierten BeamtInnen vor Ort. Wer die Täter sind, lässt sich dabei niemals pauschal sagen. Jeder kann zum Täter werden, unabhängig von Herkunft oder Alter, es gibt ein breites Spektrum. Konkrete Statistiken zu den Delikten werden nicht angefertigt. „Es fehlt auch die Nachfrage danach“, so Chefinspektor Werner Schenk. Mit wie vielen Fällen es die PolizistInnen im Lend zu tun bekommen, variiere natürlich ständig, zudem sei die Dunkelziffer ein gewichtiger Faktor. Jeden Monat liegen laut dem Chefinspektor etwa vier bis fünf Anzeigen wegen Belästigung auf dem Schreibtisch, wegen Vergewaltigung wird ungefähr drei- oder viermal im Jahr ermittelt, wobei diese Fälle nicht von den BeamtInnen der Dienststelle bearbeitet werden. Werner Schenk erinnert sich noch an den Fall eines erst 14 jährigen Jungen, der vor einigen Jahren mehr als 15 Frauen bedrängt und begrapscht hatte. Schenk hat die Suche nach dem jungen Täter nie vergessen.

In schwerwiegenderen Fällen wie Vergewaltigungen ermitteln die KollegInnen am Paulustor. Etwa jede dritte Frau in Österreich wurde schon einmal Opfer sexueller Gewalt. Hierbei geht es neben Vergewaltigung sowie dem Versuch einer solchen auch um Nötigung zu sexuellen Handlungen. Insgesamt sind vier Frauen und ein Mann, der Chef der Abteilung, am Kriminalreferat im Bereich Sexualdelikte tätig. Der Weg zu ihrem Büro gleicht einem Labyrinth, es geht vorbei an Polizeibussen, durch enge Gänge und über viele Stufen. Am Ende landet man in einem  Altbauzimmer, hohe Decken, ein alter, knarrender Parkettboden. Nimmt man auf dem Stuhl gegenüber von Rosa W. Platz, muss man unwillkürlich daran denken, wer hier normalerweise sitzt. Denn Frau W. und eine Hand voll „Menschen mit Helfersyndrom“, wie Rosa W. sagt, vernehmen hier sowohl die Opfer von Vergewaltigungen als auch Täter und ZeugInnen. Die Frauen sitzen hier meist stundenlang, müssen jedes kleinste Detail schildern. In diesem Rahmen haben Frauen das Recht, von einer Frau befragt zu werden, in der späteren Gerichtsverhandlung sitzt ihnen aber nicht zwangsläufig eine Vertreterin desselben Geschlechts gegenüber.

Vernehmungen am Schreibtisch von Rosa W.
„Die Frauen bekommen von uns Kaffee, Zigaretten – vor allem Schokolade haben wir immer da.“ Auch Rosa W. steckt sich jetzt eine Zigarette nach der anderen an. Sie berichtet von Vernehmungen, bei denen der Täter wie ein Riese neben dem Schreibtisch gestanden sei. Und von einem mulmigen Gefühl, das sie berufsbedingt immer durch die Straßen der Stadt begleitet. Sie und ihre KollegInnen müssen sich jederzeit bereit halten. Manchmal werden sie um vier Uhr morgens aus dem Bett geklingelt. Vielleicht gerade dann, wenn bei Daniela Hinterreiter eine neue E-Mail im Postfach landet. Rosa W. schnappt sich dann ihre Sachen und bricht zum Tatort auf. Im Büro haben bereits alle eine zweite Garnitur Kleidung, Shampoo und andere Alltagsutensilien gebunkert. Im letzten Sommer erstreckte sich eine ihrer Schichten über 36 Stunden: „Wir hatten das Gefühl, wir stinken schon wie Iltisse, und musste danach auch noch als Zeugen in eine Verhandlung.“

Den Facebook-Post eines mehrfachen Sexualstraftäters haben sich die Polizistinnen als trauriges Beispiel an die Pinnwand geheftet
Den Facebook-Post eines mehrfachen Sexualstraftäters haben sich die Polizistinnen als trauriges Beispiel an die Pinnwand geheftet

Früher hatte im Büro auch ein Stadtplan seinen festen Platz. Eine Karte, auf der alle Tatorte mit einem Punkt gekennzeichnet waren: Exhibitionisten gelb, Vergewaltigungen waren rote Punkte auf den Straßen und Plätzen. Seit nunmehr 20 Jahren hängt sie nicht mehr hier, seit es ihnen eines Tages untersagt wurde, Statistiken über Sexualdelikte zu führen. Rosa W. kann sich noch gut daran erinnern, sie konnte den Schritt und die Beweggründe dafür nie nachvollziehen. Seit dem 1. September 1984 ist sie in ihrem Bereich tätig. Statistiken kann sie daher zwar keine liefern, aber sie kann letztendlich doch sagen, dass es in den Polizeiinspektionen in der Karlauerstraße und am Lendplatz mehr Anzeigen wegen Übergriffen gibt als im Rest der Stadt. Zahlreiche Anzeigen gehen aber auch zuerst am Riesplatz ein. Der erste Schritt führt die Opfer nämlich oft ins Krankenhaus, die nahegelegene Polizeiinspektion ist dann die erste Anlaufstelle.

Ein Gefühl von Sicherheit: Tipps
Was Frauen tun können, wenn sie bedrängt oder belästigt werden? Daniela Hinterreiter rät jeder Frau, den Mut für ein klares „Nein“ aufzubringen. Sie spricht von einer Hemmschwelle, die manche Frauen in dieser Hinsicht hätten. Einige befürchten noch immer, sich klar gegen Annäherungsversuche auszusprechen könnte unhöflich wirken. Doch ein klares „Nein“ sei niemals unhöflich.

Bahnt man sich nachts seinen Weg durch die Gassen und fühlt sich unsicher, geben die Psychologin des Frauenservice und Rosa W. den Tipp, einen Schlüssel so in der Faust zu halten, dass die Spitze zwischen den Fingern hervorschaut. „Ein selbstsicherer, aufrechter Gang, nicht wie ein schüchternes Mäuschen“, sei ebenfalls wichtig auf dem Nachhauseweg durch die Straßen der Stadt, so die Beamtin in ihrem Büro im Kriminalreferat. Draußen wird es langsam dunkel. Eine kleine Haarspraydose  sei eine gute Alternative zu Pfefferspray, gibt Rosa W. noch als Trick mit auf den Weg. „Wenn es dazu beiträgt, dass die Frauen sich wieder sicherer fühlen, ist dies eine gute Möglichkeit“, bestätigt Daniela Hinterreiter.

 

*Rosa W. ist in ihrem Beruf mit ständigen Gefahren konfrontiert. Skrupellose Täter und ein schwieriges Umfeld sind keine Seltenheit. Zu ihrem eigenen Schutz und dem ihrer Kinder möchte sie unerkannt bleiben.

[box] Verein Frauenservice
8020 Graz, Lendplatz 38
Tel.: +43 (0) 316/71 60 22
E-Mail: office@frauenservice.at
MO-DO 8:30-14 Uhr
FR 8:30-13 Uhr

Mag.a Daniela Hinterreiter
Klinische und Gesundheitspsychologin
Tel.: +43 (0) 316/71 60 22
E-Mail: daniela.hinterreiter@frauenservice.at
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Realistin mit Hang zum Träumen, kreative und hartnäckige Annenpostlerin. Im Allgemeinen Liebhaberin des gedruckten Wortes. Zeichnet fast so gerne wie sie schreibt.

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