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Arbeit statt Abhängigkeit

in VIERTEL(ER)LEBEN von

Das Offline Retail in der Mariahilferstraße gibt suchtkranken Menschen einen Job und damit auch wieder eine Perspektive in ihrem Leben. Die Werkstätten in der Schönaugasse sind ganz dem Prinzip der Nachhaltigkeit verschrieben.

T-Shirts, Jeans, Gürtel, Hemden – auf den ersten Blick wirkt das Offline Retail in der Mariahilferstraße wie ein gewöhnliches Bekleidungsgeschäft. Im Verkaufsraum fallen dem Besucher dann allerdings Stofftaschen, Toilett-Taschen, Wickelröcke und Haarbänder sowie mehrere Sessel, Spiegelschränke, Kästen, Kommoden und Tische auf. Schnell wird klar: Das Offline Retail ist mehr als ein gewöhnlicher Shop.

Die breite Produktpalette im Geschäft von Offline Retail in der Mariahilferstraße.
Die breite Produktpalette im Geschäft von Offline Retail in der Mariahilferstraße.

„Wir geben Menschen, die suchtkrank sind oder es bis vor Kurzem waren, wieder einen Job. Zielgruppe sind also all jene, die aktuell konsumieren oder gerade einen Entzug hinter sich haben“, erklärt Bernhard Sundl, Projektleiter von Offline Retail, das im Jahr 2009 aus den Vorgängerprojekten tag.werk und IdA – Integration durch Arbeit entstanden ist. Finanziert wird das Projekt von der Santner Privatstiftung, durchgeführt von der Caritas. Für maximal neun Monate bekommen Personen, die süchtig nach Alkohol, Medikamenten, Drogen oder anderen Substanzen sind, eine geringfügige Anstellung, die ihnen mit stundenweiser Beschäftigung den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess erleichtern soll. Das Projekt gibt den Teilnehmern die Chance, wieder zu sich selbst zu finden und die für den Arbeitsmarkt so wichtigen „Soft Skills“ wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Selbstständigkeit und Eigenverantwortung zu erlernen, und wieder Struktur in ihr Leben zu bringen. Bei ihrer Tätigkeit werden sie von Betreuern unterstützt und fachlich betreut, in ihrem Konsumverhalten bleiben sie für sich selbst verantwortlich.

Werkstätten als gemeinsamer Arbeits- und Lebensraum

Bei Offline Retail gibt es eine Mode- und eine Möbelwerkstatt sowie den Bereich „Dienstleistungen“. Die Werkstätten befinden sich in der Schönaugasse im Süden von Graz, das zugehörige Geschäft in der Mariahilferstraße. Am Ende der neun Monate ergibt sich für manche sofort die Chance auf einen regulären Arbeitsplatz, für andere die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln oder die Phasen der Abstinenz zu verlängern. Je nach Fortschritt und persönlicher Entwicklung des Teilnehmers ist auch eine Steigerung auf ein vollversichertes Dienstverhältnis bei Offline Retail möglich. In welche Richtung es letztendlich geht, hängt von der individuellen Einstellung der Teilnehmer ab. Das Angebot zur Weiterbildung ist für Suchtkranke jedoch begrenzt. „Für Fördergeber sind Suchtkranke eine unattraktive Zielgruppe, weil kaum Chancen auf eine Vermittlung bestehen. Deshalb sind die Chancen in diesem Bereich eher gering. Unser Hauptziel ist es daher, den Suchtkranken mit der Beschäftigung bei uns eine zweite Chance zu geben. Wir sehen die Vermittlung eher als Zusatzbonus, können aber trotzdem auf einige Teilnehmer verweisen, die direkt nach der Beschäftigung bei uns in den regulären Arbeitsmarkt eingestiegen sind“, so Sundl.

In der Modewerkstatt können die Teilnehmer ihrer Kreativität freien Lauf lassen.
In der Modewerkstatt können die Teilnehmer ihrer Kreativität freien Lauf lassen.

Dennoch ist der Alltag für die Teilnehmer keineswegs leicht. „Eine Sucht geht oft mit psychischen Erkrankungen einher. Dazu kommen vielfach noch Probleme mit der Wohnversorgung, mit Schulden, Beziehungen. Ein Teilnehmer leidet beispielsweise an einer Psychose. Er arbeitet trotzdem, wenn er dazu körperlich in der Lage ist, sonst aber nicht. Das Projekt zeichnet sich durch flexible Herangehensweisen in der Beschäftigung der Teilnehmer aus“, erklärt Bernhard Sundl.

Auch was den Dienstbeginn angeht, wird den Projektteilnehmern relativ viel Autonomie eingeräumt. „Arbeitsbeginn ist bei uns meistens um 10 Uhr, weil die Teilnehmer zuerst in die Apotheke gehen und sich ihre Substitutionsmittel besorgen. Dann sind sie zwei Stunden lang nicht arbeitsfähig“, erklärt Sundl. Sollte ein Teilnehmer nicht in der Lage sein, zu arbeiten, darf er nach Hause gehen. Umgekehrt darf ein Teilnehmer auch dann seiner Arbeit nachgehen, wenn er offensichtlich nicht arbeitstauglich scheint, sich aber dennoch so fühlt. „Für unsere Teilnehmer ist die Arbeit eine wichtige Form, um ihren Suchtalltag zu durchbrechen. Sie finden bei uns einen Lebensraum, in dem sie ihre Erfahrungen mit anderen teilen können.“ Deshalb arbeitet die Sozialpädagogin Barbara Bachler als erste Ansprechpartnerin für die Teilnehmer auch mit ihnen in der Werkstatt, weil hier die meisten Probleme zur Sprache kommen.

In der Möbelwerkstatt wird altes Mobiliar wieder verkaufstüchtig gemacht.
In der Möbelwerkstatt wird altes Mobiliar wieder verkaufstüchtig gemacht.

Nachhaltigkeit als leitendes Prinzip

Normalerweise sind zehn bis zwölf Arbeitsplätze belegt. Diese verteilen sich auf die Mode- und die Möbelwerkstatt sowie den Bereich „Dienstleistungen“ im Außenbereich. In der Modewerkstatt bereiten die Teilnehmer Secondhand-Kleidung auf, entwerfen und fertigen aber auch Eigenprodukte an, die dann im Geschäft verkauft werden. In der Möbelwerkstatt bereiten sie alte Möbelstücke wieder auf. Sessel, Spiegelschränke, Kästen, Kommoden oder Tische werden abgeschliffen und neu behandelt. Auch diese Produkte werden verkauft – sowohl im Geschäft als auch an Unternehmen. So wurde beispielsweise das Tribeka in der Kaiserfeldgasse 6 mit weißen Sesseln von Offline Retail ausgestattet. Auf Anfrage erledigen die Teilnehmer auch Dienstleistungen für Unternehmen und Privatpersonen: Gartenarbeit und Grünraumpflege, Entrümpelungs-, Transport- und Umzugshilfe oder die Reinigung von Außenanlagen oder Stiegenhäusern.

Die Arbeit in der Modewerkstatt soll für die Teilnehmer eine Art Suchtprävention sein.
Die Arbeit in der Modewerkstatt soll für die Teilnehmer eine Art Suchtprävention sein.

Leitendes Prinzip aller Werkstätten ist das der Nachhaltigkeit und Wiederverwertung. Damit passt das Projekt auch zu den anderen, bereits im Annenviertel bestehenden „sozialökonomischen Betrieben“ wie BAN, tag.werk, Carla, Heidenspass oder re.use. „Wir hoffen, das junge Publikum mit unseren Produkten ansprechen zu können“, so Bernhard Sundl. Doch was sind seine Ziele für die nächsten Jahre? „Wir sind mit dem Projekt an sich sehr zufrieden. Wir würden uns allerdings wünschen, dass es in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen wird. Daher möchten wir es in nächster Zeit bekannter machen – und natürlich die Qualität unserer Produkte weiterentwickeln. In erster Linie geht es uns aber weiterhin darum, die Teilnehmer zu unterstützen – auf dem Weg in ein besseres Leben.“

[box]Kontakt Offline Retail:
Mariahilferstraße 19
8020 Graz
+43 676 88015 446
b.sundl@caritas-steiermark.at

Öffnungszeiten:
Mo-Fr: 11:00-18:00 Uhr
Sa: 11:00-17:00 Uhr[/box]

Ein riesengroßer Radiofreak, der über die Meteorologie in den Journalismus gestolpert ist. Kommuniziert bis zum Umfallen. Am liebsten über's Mikrofon, aber gerne auch hier über die Annenpost. Weiß auch, wie das Wetter wird und liegt damit immer richtig. Naja, fast immer.

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